Russlands expansive Passpolitik: Wenn bloße verbale Verurteilung nicht mehr ausreicht

Russlands expansive Passpolitik: Wenn bloße verbale Verurteilung nicht mehr ausreicht

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Am 24. April ordnete der russische Präsident Wladimir Putin an, dass der Bevölkerung in den von prorussischen Separatisten kontrollierten ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk russische Pässe auszustellen seien. Die Regierung der Ukraine muss mehr tun, um die russische Konsolidierung der Situation in der Ukraine zu verhindern.

Von Agnia Grigas*

Laut dem Kreml ist dies eine rein humanitäre Geste. Tatsächlich jedoch ist es Teil einer langfristigen Strategie zur Konsolidierung der Kontrolle über die Ostukraine – und, nach Russlands Ankündigung zu urteilen, es strebe ein „vereinfachtes Einbürgerungsverfahren“ für alle Ukrainer an, möglicherweise darüber hinaus. Russland nützt Staatsbürgerschaft und Pässe schon seit Langem, um seine Reichweite zu vergrößern. Wie ich in meinem Buch „Beyond Crimea: The New Russian Empire“ beschrieben habe, beginnt der Prozess im Allgemeinen mit der Förderung von Soft Power und humanitärem Engagement. Er geht dann zu einer Politik über, die darauf zielt, die ausländische russischsprachige Bevölkerung zu einen und zu „russifizieren“, sowie zur Informationskriegsführung.

Die „Passportisierung“ ist der fünfte Schritt bei diesem Prozess, gefolgt vom Schutz und der schließlichen Annexion des betreffenden Gebiets. Während die meisten Länder ihre konsularischen Einrichtungen nutzen, um Touristen anzulocken, den Kultur- oder Bildungsaustausch zu fördern und die wirtschaftliche Migration zu steuern, setzt Russland sie zur Förderung seiner Sicherheitsinteressen und territorialen Ambitionen ein. Seit Beginn der 1990er Jahre ist das Land bemüht, eine doppelte Staatsbürgerschaft für die russische Diaspora in den früheren Sowjetstaaten zu etablieren und bestimmte Regionen außerhalb seiner Grenzen zu „passportisieren“ – häufig unter Missachtung der Gesetze der betreffenden Länder und internationaler Normen.

Start der Pass-Offensive

Nachdem das russische Staatsbürgerschaftsgesetz von 2002 es allen Bürgern der früheren Sowjetunion erleichterte, die russische Staatsbürgerschaft zu erwerben, startete der Kreml eine Kampagne zur Ausgabe russischer Pässe in den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien. Das russische Konsulat in Simferopol stellte in den Jahren vor der Annexion der Krim 2014 auf der Halbinsel aggressiv russische Pässe aus. In Unterstützung dieser Mission führte der Kongress der Russischen Gemeinschaften, eine öffentliche politische Organisation, seit 2002 den Passportisierungsprozess in Abchasien an und agierte vor 2014 als eine führende prorussische Kraft auf der Krim. Indem sie Gefühle der Entfremdung und des Separatismus verstärkte, bereitete die Passportisierung Russland den Weg zur faktischen Kontrolle über Südossetien, Abchasien, die Krim und die moldawische Region Transnistrien.

Zugleich beharrt Russland – unter Nutzung der modernen Sprache der Menschenrechte – darauf, dass seine Passportisierungsaktivitäten dazu dienen sollen, bedürftige Menschen zu schützen. Schon im 19. Jahrhundert nahmen die russischen Zaren für sich das Recht in Anspruch, orthodoxe Bürger im Osmanischen Reich zu schützen – eine Politik, die wesentlich zu den Balkankriegen dieser Zeit beitrug. Seit den 1990er Jahren konzentrieren sich russische Gesetze und Doktrinen auf den „Schutz“ bedürftiger Russen, russischsprachiger Minderheiten und ihrer „Landsleute“ (eine vage, aber häufig angeführte Kategorie), und zwar sowohl innerhalb wie außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation.

„Schutz der Bürger oberste Priorität“

Während des russisch-georgischen Krieges von 2008 wiederholte der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew bei einer Diskussion über Ossetier und Abchasen, die russische Pässe erhalten hatten, dass „der Schutz des Lebens und der Würde unserer Bürger wo auch immer eine unbestreitbare Priorität unseres Landes“ sei. Russlands Einsatz militärischer Gewalt in Südossetien wurde ebenfalls mit der Verteidigung der „Würde und Ehre der russischen Bürger“ begründet. In ähnlicher Weise erklärte Putin 2014: „Wir werden die ethnischen Russen in der Ukraine sowie jenen Teil der ukrainischen Bevölkerung, der sich ethnisch, kulturell und sprachlich untrennbar mit Russland verbunden und als Teil der breiteren russischen Welt fühlt, immer beschützen.“

Die Staatsbürgerschaft ist die ultimative Garantie des Schutzes durch den russischen Staat. Für viele Menschen ist sie mit sozialen und wirtschaftlichen Vorteilen verbunden: Ein russischer Pass macht es einfacher und billiger, nach Russland zu reisen, wo sie Vorteile wie freie Bildung und Krankenversorgung, Programme zur Unterstützung von Familien (darunter günstige Hypothekendarlehen und finanzielle Unterstützung für große Familien) sowie zivile und militärische Pensionen in Anspruch nehmen können. Sie können zudem bei den russischen Wahlen mit abstimmen.

Doch was die strategischen Machenschaften des Kremls unterstreicht: Viele dieser Leistungen werden außerhalb Russlands selektiv insbesondere in Separatistengebieten gewährt. So erhielten 2008 russische Bürger mit Wohnsitz in Transnistrien, nicht aber im übrigen Moldau staatliche monatliche Zahlungen. Angesichts der bisherigen russischen Bilanz sollte man seine jüngsten Bemühungen zur Passportisierung der Ukraine nicht ignorieren. Es ist kein Zufall, dass Putin nur vier Tage, nachdem das Land den unkonventionellen Kandidaten Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten gewählt hatte, seine Absicht erklärte, im östlichen Donezkbecken lebenden Ukrainern ein beschleunigtes Einbürgerungsverfahren anzubieten.

Hochgradig provokative Maßnahme

Das US-Außenministerium hat die neue Passpolitik des Kremls in der Ukraine zu Recht als hochgradig provokative Maßnahme bezeichnet, die Russlands „Anschlag auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine“ verschärft. Doch Putins anschließende Erklärung, er würde womöglich die Einbürgerungsverfahren für alle Ukrainer beschleunigen, zeigt, dass eine bloße verbale Verurteilung nicht ausreicht.

Die USA und ihre europäischen Verbündeten sollten weitere Sanktionen in Betracht ziehen und dabei potenziell Russlands geplante Erdgas-Pipeline nach Deutschland, Nord Stream 2, ins Visier nehmen. Die Regierung der Ukraine muss ihre Öffentlichkeitsarbeit im Donezkbecken ausdehnen, um den russischen Versuchen zu begegnen, ihr die dortige Bevölkerung zu entfremden. Doch müssen die USA und Europa angesichts der begrenzten Fähigkeit des Landes, dem russischen Expansionismus etwas entgegenzusetzen, deutlich mehr tun, um Russland an der Konsolidierung eines weiteren Landraubs zu hindern.

*Agnia Grigas ist Politologin und Risikoberaterin. Sie ist Mitglied der Denkfabrik Atlantic Council in Washington. Sie ist daneben Autorin von „The New Geopolitics of Natural Gas“ und „Beyond Crimea: The New Russian Empire“.

Mephisto
14. Mai 2019 - 14.58

Um die Bevölkerungszahl Russlands einigermassen konstant zu halten, muss Putin & Co Pässe an die Einwohner der Anrainerstaaten vergeben, oder richtiger gesagt den Leuten sie aufdrängen . Die jungen Russen, besonders die gut ausgebildeten, möchten nämlich lieber heute als morgen das despotisch geführte Land verlassen. Alle die es irgendwie schaffen tun es auch. So scheinen unsere viel kritisierten Demokratien doch eine grössere Anziehungskraft zu haben als manche das darstellen.

Muller Guy
14. Mai 2019 - 13.43

Der "freier Welt" hier Schold. Den Diktator Putin mecht wéi hin wellt an keen muckst sech. Den Westen mecht weider deck Geschäfter mat dem Völker- an Menschenrecht- Verletzer Putin. An der Ost-Ukraine muss déi Russisch Populatioun geschützt gin. Vir un wiem an vir un wat? An Russland get d'Bevölkerung awer net beschützt. Am Géigendeel! Sie gin agespart, vergeft oder erschoss wann se eng aner Meenung hun wéi hieren Diktator.