Die unmittelbare Reaktion von US-Präsident Donald Trump und seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping auf den Ausbruch des Coronavirus bestand nicht etwa darin, ihre Bevölkerungen zu informieren und anzuleiten, sondern das Problem zu verleugnen, was zum Verlust von Menschenleben führte. Anschließend richteten beide ihre Energie auf Schuldzuweisungen statt auf die Suche nach Lösungen. Aufgrund ihrer Versäumnisse hat die Welt das Zeitfenster, um auf die Krise mit einem „Sputnik-Moment“ oder einem „Covid-19-Marshall-Plan“ zu reagieren, womöglich bereits verpasst.
Führungstheoretiker unterscheiden zwischen „transformationalen“ und „transaktionalen“ Führern. Letztere versuchen, Situationen durch business as usual zu bewältigen, während Erstere sich bemühen, die Situationen, in denen sie sich wiederfinden, zu verändern. Natürlich haben transformationale Führer nicht immer Erfolg. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush versuchte, den Nahen Osten durch den US-Einmarsch im Irak umzugestalten, was katastrophale Folgen hatte.
Faule Führer neigen dazu, den Status quo zu verstärken, indem sie bestehende Uneinigkeiten ausnutzen, um für sich selbst Unterstützung zu mobilisieren
Im Gegensatz hierzu verfolgte sein Vater, Ex-Präsident George H.W. Bush, einen eher transaktionalen Stil; er verfügte freilich auch über die Fähigkeiten zur Steuerung der fluiden Situation, in der sich die Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa befand. Der Kalte Krieg endete und Deutschland wurde wiedervereinigt und fest im Westen verankert, ohne dass ein einziger Schuss fiel.
Charakter einer Gesellschaft
Unabhängig von ihrem jeweiligen Führungsstil können Führer einen starken Einfluss auf die Gruppenidentität ausüben: die Kraft, die „ich“ und „du“ in „wir“ verwandelt. Faule Führer neigen dazu, den Status quo zu verstärken, indem sie bestehende Uneinigkeiten ausnutzen, um für sich selbst Unterstützung zu mobilisieren, so wie Trump das tut. Doch können effektive transformationale Führer weitreichenden Einfluss auf den moralischen Charakter einer Gesellschaft haben.
Mandela etwa hätte die schwarzen Südafrikaner problemlos zu seiner Basis erklären und versuchen können, Rache für Jahrzehnte der Ungerechtigkeit zu nehmen. Stattdessen arbeitete er unermüdlich daran, die Identität seiner Anhänger zu verbreitern. In ähnlicher Weise zog der französische Diplomat Jean Monnet nach dem Zweiten Weltkrieg – in dem Deutschland zum dritten Mal in 70 Jahren in Frankreich einmarschiert war – den Schluss, dass Rache die Tragödie nur reproduzieren würde. Um die Situation zu verändern, entwickelte er einen Plan zur gemeinsamen europäischen Kohle- und Stahlproduktion – ein Arrangement, aus dem letztlich die Europäische Union hervorgehen sollte.
Diese Erfolge waren keine Zwangsläufigkeit. Wenn wir über unsere Familien und engsten Kontaktpersonen hinausblicken, sehen wir, dass die meisten menschlichen Identitäten das sind, was der Politologe Benedict Anderson als „vorgestellte Gemeinschaften“ bezeichnet hat. Niemand teilt die Erfahrungen der Millionen anderer Menschen gleicher Nationalität unmittelbar. Doch seit ein oder zwei Jahrhunderten ist die Nation die vorgestellte Gemeinschaft, für die Menschen zu sterben bereit sind.
Globale Bedrohungen wie Covid-19 und der Klimawandel jedoch unterscheiden nicht nach Nationalität. In einer globalisierten Welt gehören die meisten Menschen einer Anzahl sich überschneidender – lokaler, regionaler, nationaler, ethnischer, religiöser und beruflicher – vorgestellter Gemeinschaften an, und die Politiker müssen nicht an die verengtesten Identitäten appellieren, um Unterstützung oder Solidarität zu mobilisieren.
Der Beginn der Covid-19-Pandemie stellte eine Gelegenheit zur transformationalen Führung dar. Ein transformationaler Führer hätte frühzeitig erklärt, dass die Krise aufgrund ihres globalen Charakters von einzelnen Ländern nicht im Alleingang zu bewältigen sei. Trump und Xi haben diese Gelegenheit vertan. Beide erkannten nicht, dass die Ausübung von Macht ein Positivsummenspiel hätte werden können. Statt Macht allein unter dem Aspekt der Macht über andere zu betrachten, hätten sie sie unter dem Aspekt der Macht zusammen mit anderen betrachten können. In vielen transnationalen Fragen kann die Stärkung anderer einem Land wie den USA helfen, eigene Ziele zu erreichen.
Mächtiger mit Partnern
Wenn China sein Gesundheitswesen stärken oder seinen CO2-Fußabdruck verringern kann, profitieren davon auch die Amerikaner und alle anderen. In einer globalisierten Welt sind Netzwerke eine zentrale Quelle von Macht. Und in einer zunehmend komplexen Welt sind die am besten vernetzten Staaten – also diejenigen, die am besten imstande sind, Partner für gemeinschaftliche Anstrengungen zu gewinnen –, die mächtigsten.
Insoweit wie der Schlüssel zu Amerikas künftiger Sicherheit und Prosperität darin begründet liegt, zusätzlich zur Bedeutung der Macht über andere auch die der Macht zusammen mit anderen zu erkennen, war die Leistung der Trump-Regierung während der Pandemie entmutigend. Das Problem ist nicht der Slogan „America first“ (jedes Land stellt seine eigenen Interessen an erste Stelle). Es besteht darin, wie Trump amerikanische Interessen definiert. Er konzentriert sich allein auf die kurzfristigen Gewinne, die sich durch Nullsummentransaktionen erzielen lassen, und schenkt den durch Institutionen, Bündnisse und Gegenseitigkeit begünstigten längerfristigen Interessen kaum Beachtung.
Gegenwärtig haben die USA ihre Tradition, ein langfristiges aufgeklärtes Eigeninteresse zu verfolgen, aufgegeben. Doch könnte die Trump-Regierung die Lehren, die die Grundlagen der Erfolge amerikanischer Präsidenten nach 1945 bildeten und die ich in meinem jüngsten Buch „Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump“ beschreibe, noch immer beherzigen. Tatsächlich könnten die USA noch immer ein massives Covid-19-Hilfsprogramm nach dem Vorbild des Marshall-Plans auflegen.
Wurde der Moment verpasst?
Wie Henry Kissinger kürzlich argumentierte, sollten die heutigen politischen Führer einen Kurs der Zusammenarbeit einschlagen, der zu stärkerer internationaler Widerstandsfähigkeit führt. Statt auf Konkurrenzpropaganda zu verfallen, könnte sich Trump für einen G20-Notgipfel oder ein Treffen des US-Sicherheitsrates aussprechen, um bilaterale und multilaterale Rahmen für eine stärkere Zusammenarbeit zu schaffen. Trump könnte zudem darauf verweisen, dass neue Covid-19-Wellen die ärmeren Länder besonders hart treffen werden und dass neue Ausbrüche im globalen Süden, wenn sie nach Norden zurückschwappen, allen schaden werden.
Es lohnt, sich zu erinnern, dass bei der zweiten Welle der Spanischen Grippepandemie von 1918 mehr Menschen starben als bei der ersten. Ein transformationaler Führer würde der amerikanischen Bevölkerung vermitteln, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, großzügige Beiträge für einen neuen Covid-19-Fonds zu mobilisieren, der allen Entwicklungsländern offensteht. Würde ein amerikanischer Churchill oder Mandela der Öffentlichkeit Derartiges vermitteln, könnte uns die Pandemie einen Weg in eine bessere Welt ebnen.
Leider jedoch haben wir den Moment für eine transformationale Führung womöglich schon verpasst; möglicherweise wird das Virus die in der Welt herrschenden Vorerkrankungen des populistischen Nationalismus und des autoritären Missbrauchs der Technologie lediglich beschleunigen. Führungsversagen ist immer zu bedauern, angesichts einer Krise jedoch umso mehr.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Joseph S. Nye, Jr. ist Professor an der Universität Harvard und der Verfasser von „Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump“.
Copyright: Project Syndicate, 2020.
Der eine ist "Gott",also unfehlbar.Der andere ist einfach nur dumm und naiv. Beides Kriterien fürs Versagen.