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StandpunktKann China sein Wirtschaftswunder bewahren?

Standpunkt / Kann China sein Wirtschaftswunder bewahren?
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Chinas jüngste Entscheidung, die strikte Null-Covid-Politik aufzugeben, hat viele zu der Annahme bewogen, dass sich die chinesische Wirtschaft jetzt erholen wird.

So hat beispielsweise die Economist Intelligence Unit ihre Prognose für das chinesische BIP-Wachstum des Jahres 2023 auf 5,2 Prozent nach oben revidiert. Die Erholung des Wachstums ist jedoch kein Automatismus und China hat mit mehreren Herausforderungen zu kämpfen. Kurzfristig zählen dazu das schwindende Vertrauen der Unternehmen und Haushalte hinsichtlich ihrer zukünftigen Einkommen, mittelfristig das unzureichende Produktivitätswachstum und langfristig eine ungünstige demografische Entwicklung.

Auf kurze Sicht könnte die Wiederherstellung des Vertrauens wichtiger sein als die Ausweitung der Kreditvergabe. Nach einer längeren Phase wiederholter Lockdowns zögern viele Kleinunternehmen und Beschäftigte in traditionellen Dienstleistungssektoren, die um Arbeitsplätze und Einkommen gefürchtet haben, Anschaffungen zu tätigen. Und nach den jüngsten Einnahmeausfällen sowie angesichts verschärfter regulatorischer Kontrolle im Bildungswesen, in der Technologiebranche und in anderen Sektoren sind zahlreiche Unternehmen vorsichtig mit Investitionen. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage unter chinesischen und in China tätigen ausländischen Firmen hat die in Shanghai ansässige China Europe International Business School festgestellt, dass das Geschäftsvertrauen in China auf einen neuen Tiefstand gesunken ist.

Senkung von Steuern

Dieser Pessimismus kann selbsterfüllende Wirkung haben. Wenn genügend Unternehmen und Haushalte das Vertrauen verlieren und ihre Ausgaben kürzen, sinkt die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen anderer Unternehmen. Von deren niedrigeren Einkünften wären letztendlich die Zulieferer dieser Unternehmen betroffen. Um diesen Pessimismus-Kreislauf zu durchbrechen, gilt es für die chinesischen Entscheidungsträger, kurzfristig das Vertrauen wiederherzustellen. Allerdings präsentieren sich ihre Möglichkeiten begrenzt. Eine bessere Berechenbarkeit künftiger politischer Maßnahmen wäre überaus hilfreich zur Stärkung des Vertrauens, doch diese Berechenbarkeit lässt sich nicht einfach durch staatliche Verlautbarungen erreichen. Eine Kreditausweitung würde zwar die Gesamtnachfrage ankurbeln, könnte aber die unerwünschte Nebenwirkung haben, die Inflation in die Höhe zu treiben. Unterdessen haben die kostspieligen Covid-19-Tests und Quarantänen Chinas fiskalische Kapazitäten strapaziert.

Eine denkbare politische Maßnahme wäre eine zeitlich befristete Senkung der Umsatz- und Körperschaftsteuer. Durch eine nur vorübergehende Senkung dieser Steuern könnte China seine Staatsverschuldung verringern und den Verbrauch der privaten Haushalte ankurbeln. In ähnlicher Weise könnte eine befristete Senkung der Körperschaftsteuer zu mehr Investitionen des Privatsektors führen als eine entsprechende dauerhafte Senkung.

Um mittelfristig das Tempo des Produktivitätswachstums zu erhöhen, benötigt die chinesische Wirtschaft mehr als zusätzliche Patente und Software. Es bedarf vielmehr einer besseren Ressourcenallokation zwischen Einzelpersonen, Unternehmen und Sektoren. So könnte China beispielsweise durch eine Reform des als „Hukou“ bezeichneten Systems der staatlichen Haushaltsregistrierung die gleiche Menge an Humanressourcen weit effizienter einsetzen und gleichzeitig die soziale Gerechtigkeit verbessern. Ein weiterer Schritt, der möglicherweise zur Steigerung der Produktivität beiträgt, besteht in der Angleichung der Rahmenbedingungen für staatliche und private Unternehmen bei der Vergabe von Bankkrediten und staatlichen Genehmigungen.

Qualifikation der Arbeitskräfte

Um das mittelfristige Wachstum zu steigern, gilt es für China, die Lehren aus seiner eigenen Geschichte zu ziehen und sich auf die Beseitigung von Hindernissen für Marktzugang und Unternehmertum zu konzentrieren. Die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft ergibt sich aus der Kombination einer Zunahme der durchschnittlichen Größe bestehender Unternehmen (intensives Wachstum) und einer Steigerung der Anzahl von Unternehmen (extensives Wachstum). Eine von mir gemeinsam mit Xiaobo Zhang durchgeführte Studie über den chinesischen Fertigungssektor legt nahe, dass in den letzten Jahrzehnten ungefähr 70 Prozent der gesamten BIP-Expansion auf das extensive Wachstum entfiel.

Langfristig gesehen besteht die größte wirtschaftliche Herausforderung für China in der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung des Landes. Im Gegensatz zu wirtschaftlichen Konkurrenten wie Vietnam und Indien nimmt die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in China seit fast einem Jahrzehnt ab. Selbst wenn das Produktivitätswachstum konstant bliebe, würde diese demografische Verschiebung zu einem immer geringeren BIP-Wachstum führen. Einige politische Maßnahmen, wie etwa der massenhafte Import ausländischer Arbeitskräfte, könnten Abhilfe schaffen, würden aber wohl zu sozialen oder politischen Verwerfungen führen. Andere Maßnahmen wie die Erhöhung der Geburtenrate, die Anhebung des Renteneintrittsalters oder die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen präsentieren sich nicht besonders vielversprechend.

Ein realistischeres Ziel wäre es jedoch, die Qualifikation der Arbeitskräfte zu verbessern. So könnte China beispielsweise das durchschnittliche Bildungsniveau seiner Arbeitskräfte erhöhen, indem man Verbleib- und Abschlussquoten in höheren und berufsbildenden Schulen in ländlichen Gebieten verbessert. Die Allgegenwart von Smartphones und Tablets bietet einen neuen potenziellen Ansatzpunkt für die Verbesserung der Qualifikationen von Beschäftigten. Doch nach einer Phase der Verschärfung der Bestimmungen für Online-Bildungsdienste würde derartiges ein freizügigeres politisches Umfeld erfordern, das den Unternehmergeist in diesem Bereich fördert.

Schließlich sollte sich China nicht zu sehr auf rasches BIP-Wachstum fixieren, sondern sich stattdessen darauf konzentrieren, das Pro-Kopf-Einkommen zu erhöhen und die Lebensqualität zu verbessern. Diese Faktoren sind für die Menschen in China von wesentlich höherer Bedeutung als das BIP-Wachstum und hängen auch nicht so sehr von der Bevölkerungszahl ab.


* Shang-Jin Wei ist ehemaliger Chefökonom der Asiatischen Entwicklungsbank sowie derzeit Professor für Finanz- und Wirtschaftswissenschaften an der Columbia Business School und der School of International and Public Affairs der Columbia University.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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