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ForumIdiotikon: Zu einem Begriff, der nicht missverstanden werden sollte

Forum / Idiotikon: Zu einem Begriff, der nicht missverstanden werden sollte

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Idiotisch, dumm? Vielleicht, oder auch nicht … Der Titel dieses Beitrages kann jedoch leicht irreführen – das sei einleitend schon mal klargestellt. Befassen wir uns in diesem Tageblatt-Beitrag, als kritische Sommerlektüre gedacht, mit einem besonderen, den meisten von uns sicherlich völlig unbekannten Terminus, nämlich mit dem des Idiotikon.

Von Frank Bertemes*

Auch wenn dieser Begriff auf den ersten Blick einen völlig falschen Eindruck vermitteln könnte, so kann man trotzdem eine gewisse Wortableitung, rein inhaltlich zu lesen, bestimmt nicht so einfach ignorieren, im Gegenteil! Besonders wenn man sich als kritischer Bürger, der so einiges im aktuellen Kontext der politischen Geschehnisse nicht begreifen kann, wie ein Idiot, meint wie ein gewöhnlicher, einfacher, ja durchaus dummer Mensch vorkommt – zumindest gelegentlich … Nur – wer ist der wirklich Dumme?

Doch zuerst einmal zum Idiotikon selbst. Ein Idiotikon ist ein Wörterbuch, das mundartliche, dialektale, ferner auch sozioelektale (und dazu weiter unten im Text noch mehr) oder fachsprachliche Ausdrücke erläutert, also in der Regel ein Mundart- oder Regionalismen-Wörterbuch. Der Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert und geht etymologisch auf das griechische Wort „idios“ für „abgesondert, eigen, privat“ zurück; ein Idiotikon ist also ein „Verzeichnis der einer gewissen Landschaft eigenen und deshalb erklärungsbedürftigen Ausdrücke“. Eine schon für unsere Landessprache (Herrn Atten wird’s wohl freuen) interessante Herausforderung, darf man als garantiert nicht chauvinistischer Freund der „Lëtzebuerger Sprooch“ schon mal in diesem Zusammenhang anmerken. Die Meinung, das Wort Idiotikon gehe auf das griechische Wort „idiotes“, meint „privat, ungelehrt, laienhaft“, also auch „ Idiot“ in seiner früheren Bedeutung „Ungebildeter; Mann aus dem Volke“ oder auch „idiotikos“ sprich „kunstlos, gemein“, zurück, ist, so weit eine Begriffserklärung, unzutreffend.

Der Begriff Idiotikon wurde 1743 vom Griechisch-Dozenten Michael Richey für sein Hamburger Wörterbuch geschaffen. Das für uns im Kontext dieser Zeilen trotzdem reizvolle Wort Idiotismus findet sich übrigens erstmals in Johann Bödikers „Grundsätzen der Teutschen Sprache“ (Berlin 1746), wo es in der Bedeutung „örtlich, zeitlich, personell“ verwendet wird. Unter Idiotismen (wenn wir schon dabei sind) versteht man ebenfalls „Redensarten, Phraseologismen“, insoweit passen die einführenden Bemerkungen trotzdem in den Gesamtkontext dieses Beitrages, der natürlich seinen speziellen Hintergrund als Sinn haben soll.

So weit zumindest die Absicht des schreibenden „Idioten“, der sich, wie andere auch, tagtäglich von unserer politischen Kaste irgendwie „veräppelt“ oder für dumm verkauft vorkommt. Und noch – zurück zu unserer Wortanalyse: In der später allgemein gültigen Bedeutung „Ausdruck, der einer gewissen Landschaft eigen ist“ wird der Begriff Idiotismus übrigens zum ersten Mal in der 1755 gedruckten zweiten Auflage des erwähnten Hamburger Wörterbuches verwendet.

„Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger.“

Kurt Tucholsky

Volksferne Realpolitik

Diese Zeilen beschäftigen sich ebenfalls mit dem in der Definition des interessanten Ausdrucks „Idiotikon“ bereits erwähnten Begriffes „sozioelektal“ – und das im Kontext der vom Zeilenschreiber in dessen letzten Beiträgen thematisierten EU-Politik, die offensichtlich über ein eigenes Idiotikon der besonderen Art verfügt. Dies im Zusammenhang mit einer von der EU-Kommission „gepflegten“ arroganten, überheblichen, ganz einfach volksfernen neoliberalen Dschungel-Realpolitik, die sich meilenweit von den wirklichen Interessen des „idiotischen“ Wahlvolkes im Alltagsleben entwickelt hat. Ein Wahlvolk, das es ganz einfach satt hat, sich weiterhin von oben herab und im Interesse des Kapitals, sprich Banken und Konzernen, verdummen und bevormunden zu lassen.

Das zumindest müsste die etablierte politische Klasse, deren Vertreter auf völlig berechtigte Kritik allerdings oft mimosenhaft beleidigt zu reagieren belieben, ob des rezenten EU-Wahlganges und seines für die etablierten Volksparteien wenig hilfreichen Resultates, das allerdings zumindest (hoffentlich) richtungsweisend sein dürfte, erkannt haben. Der hier schreibende Verfechter basisdemokratischer, partizipativer Politinstrumente auf allen politischen Ebenen, ob diese nun lokaler, nationaler oder europäischer Form sind, will an dieser Stelle in persönlicher Bescheidenheit auf seine Art und Weise eben einige Denkanstöße mittels eher unüblicher terminologischer Debatte ankurbeln … nicht mehr und nicht weniger!

Sozioelektal, wie bereits erwähnt, Soziolekte also – in eben diesem Zusammenhang EU eingesetzt: Als Soziolekte oder Gruppensprachen werden Sprachvarianten bezeichnet, die von sozial definierten Gruppen verwendet werden. Soziolekte unterscheiden sich von der Standardsprache u.a. dadurch, dass sie in der Regel nur innerhalb der jeweiligen Gruppe verwendet werden und oft nur in dieser Gruppe verständlich sind. Womit wir beim Kern der Debatte wären: das an dieser Stelle (natürlich in rein bildlicher Lesart) thematisierte EU-Idiotikon, selbst für Pro-EU-interessierte Bürger*innen als Normalos oft völlig unverständlich. Eine absichtlich eingesetzte EU-Fachsprache, um uns alle davon zu überzeugen, dass eine EU-Demokratie, die das Wahlvolk völlig ignoriert, tatsächlich doch existieren soll? Oder um die Wahrheit der Eliten uns gegenüber zu vertuschen?

Übergewicht an Angstthemen

Im Klartext: Der Plan D für die Europäische Union, als zukünftiger Eintrag in dessen hier thematisiertes „Idiotikon“ europäischer Lesart. Wie sich einige EU-Spezialisten wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie ebendiesen „Themenwechsel“ innerhalb der EU vorstellen: Es dürfe eben nicht länger ein (Zitat) „Übergewicht an Angstthemen“ geben (und diese braucht man kaum noch zu nennen, so sehr langweilen sie uns fast schon), denn das spiele der EU-Rechten nur direkt in die Hände – was man uns wahrlich nicht mehr beweisen muss! Stattdessen sollten Zukunftsvisionen „die europäische Gesellschaft mehr beschäftigen als Horrorfantasien von Überfremdung, Terror und Religionskriegen.“ Anders gesagt: Der Angstkeller des Hauses Europa sollte geschlossen und dafür seine Fenster in die Zukunft geöffnet werden. Solche Fenster könnten sich durch die Debatte der einfachen Frage „Wie wollen wir in den nächsten Jahren anders und besser leben?“ tatsächlich öffnen!

Es geht, so kann der kritische „Idiot“ geneigt sein anzumerken, um das wirklich gute Leben (und das ist keine idiotische Utopie!) nicht nur der heutigen, sondern vielmehr der künftigen EU-Generationen, demnach eine Aufforderung an jene EU-Politkaste, die sich dieser „dummen Bemerkung“ aus dem Wahlvolk – jedoch untermauert von verantwortungsvollen Politwissenschaftlern, die so dumm zu sein jedenfalls qua Funktion nicht verdächtig sind – in ihrer egozentrischen Selbstdarstellung in gewissen EU-Positionen bislang ungeniert völlig entzogen haben – eigentlich ein Skandal, dass man so etwas überhaupt aufwerfen muss! Nur, und man bedenke, dass man das „tumbe Wahlvolk“ trotzdem nicht auf Dauer für dumm verkaufen kann: Die Zeiten der Volksverdummung sind endgültig vorbei!

Angst vor dem Volk

Der erwähnte Plan D – und damit zurück zum Thema – beinhaltet ein “D“, das für Demokratie, Dialog und Diskussion steht, die Debatte um ein neu zu entdeckendes Instrument für ein Sprachrohr der Bürgerinnen und Bürger Europas! Neue, zusätzliche Gremien für die Zukunftsthemen, wie beispielsweise ein „Zukunftsrat“, der im Kontext des visierten Plans D (so jedenfalls Leggewies Idee) zum Einsatz kommen soll und die existierenden EU-Gremien beraten könnte. Der weltweit anerkannte deutsche Professor der Politikwissenschaften Claus Leggerwie, ein großer Fan von Bürgerbeteiligung und partizipativer Demokratie, Bereiche der wahren Demokratie – in denen auch unser Ländchen, in dem die politische Klasse die Angst vor dem Volk (siehe die aktuelle Verfassungsdebatte, die logischerweise einem Referendum unterliegen müsste, ja muss!) absolut manifestiert –, wünscht sich mit anderen ebendiese D-Debatte, gekoppelt mit einer progressiven Sozialagenda, die die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens beinhaltet, das mittels einer Roboter- und Finanztransaktionssteuer finanziert werden könnte.

Was ein Begriff wie das Idiotikon doch so alles beinhalten kann …
Denn, so Antoine de Saint-Exupéry: Erst dann, wenn sich der Mensch Begriffe formt, begreift er sich.
Hoffen wir’s.

* Der Autor ist Angestellter der CFL und schreibt regelmäßig Beiträge zu sozialen Themen im Forum