Ehrlichkeit bedeutet, anzuerkennen, dass der Extremismus auf beiden Seiten zunimmt. Rücksichtslose Angriffe und Gewalt fordern viele israelische Todesopfer. Die Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland bedroht zunehmend das Leben und die Lebensgrundlagen vieler Palästinenser – fast immer ungestraft. Darüber hinaus fordern israelische Militäroperationen häufig den Tod von palästinensischen Zivilisten, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden, illegale Siedlungen werden auf besetztem Land errichtet und der heikle Status quo in Bezug auf heilige Stätten wird ausgehöhlt. Während sich die Israelis auf einen starken Staat und eine starke Armee verlassen können, haben die Palästinenser keinen solchen Rückhalt. Diese enorme Ungleichheit bei der Kontrolle des eigenen Schicksals ist an jedem Kontrollpunkt am Straßenrand sichtbar. All diese Tatsachen sind Hindernisse für den Frieden.
Die verschiedenen Akteure in Europa reagieren oft unterschiedlich auf die Ereignisse in der Region. Aber das hindert die EU nicht daran, zu handeln. Wir alle sind höchst beunruhigt über die jüngsten Entwicklungen, und wir alle verfolgen letztlich dasselbe Ziel: einen sicheren, weltweit anerkannten Staat Israel, der in Frieden neben einem sicheren, weltweit anerkannten Staat Palästina lebt. Diese Lösung würde es beiden Seiten ermöglichen, Freiheit, Wohlstand und friedliche Beziehungen in der Nachbarschaft zu genießen.
Und auch unsere eigenen Interessen stehen auf dem Spiel. Wir wollen Frieden, weil eine Beendigung des Konflikts für die internationale Sicherheit so wichtig wäre. Wir wollen Frieden, weil wir das Existenzrecht sowohl Israels als auch Palästinas anerkennen und weil wir überall für den Grundsatz des Völkerrechts eintreten. Wir wollen Frieden, weil wir mit allen Völkern im Heiligen Land verbunden sind und weil er so wichtig ist für die Stabilität und den Wohlstand in der gesamten Region. Und wir wollen Frieden, weil Terrorismus überall eine Bedrohung darstellt.
Doch während die EU, die Palästinensische Autonomiebehörde und ein beträchtlicher Teil der israelischen Öffentlichkeit die Zweistaatenlösung unterstützen, erkennt die Hamas das Existenzrecht Israels nicht an und das Koalitionsabkommen der derzeitigen israelischen Regierung spricht den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat ab. Die israelische Rechte leugnet sogar zunehmend, dass die Besatzung überhaupt existiert.
Versäumnisse der letzten Jahre
Es ist klar, dass weder die israelische noch die palästinensische Seite zum Frieden bereit ist. Auf palästinensischer Seite mangelt es an Einigkeit und an demokratischer Legitimation. Alle palästinensischen Gruppierungen müssen dem Terrorismus abschwören und ihre politischen Spaltungen überwinden. Auf israelischer Seite muss es oberste Priorität sein, den Siedlungsbau und die Gewalt der Siedler zu stoppen und Verhandlungen über einen unabhängigen palästinensischen Staat anzubieten.
Zur Person
Josep Borell ist Hoher Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission
In den letzten Jahren hat es die internationale Gemeinschaft versäumt, substanzielle Friedensbemühungen zwischen den Parteien voranzutreiben. Unsere amerikanischen Partner haben lange versucht, die Parteien zusammenzubringen, und die jüngsten Normalisierungsabkommen (die sogenannten Abraham-Abkommen) zwischen Israel und einigen seiner arabischen Nachbarn haben einen wichtigen Beitrag zur regionalen Stabilität geleistet. Aber sie haben den israelisch-palästinensischen Frieden nicht nähergebracht. Auch wenn die Vereinigten Staaten für den Prozess nach wie vor unverzichtbar sind, können wir den Großteil der harten Arbeit nicht länger amerikanischen Diplomaten überlassen. Vielmehr brauchen wir eine wirklich kollektive Anstrengung, die die arabischen Staaten, Europa, die Vereinigten Staaten und andere einschließt.
Was sollten wir auf Basis dieser ehrlichen Fakten als Nächstes tun? Wir brauchen vor allem intensivere internationale Bemühungen, um eine neue Friedensdynamik zu schaffen. Wir können die Parteien zwar nicht an den Verhandlungstisch zwingen, aber wir können ihnen den Weg bereiten und ihnen helfen, bereit zu sein.
Im Jahr 2013 hat die EU ein „beispielloses Paket an sicherheitspolitischer, wirtschaftlicher und politischer Unterstützung“ angeboten, falls die Parteien ein Friedensabkommen schließen. Auf dieser Basis habe ich den EU-Sonderbeauftragten Koopmans beauftragt, mit der Europäischen Kommission und den EU-Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um den Vorschlag auszuarbeiten. Außerdem habe ich ihn gebeten, gemeinsam mit unseren Partnern konkrete Vorschläge für einen umfassenden regionalen Prozess zu entwickeln, um Frieden sowohl zwischen Israel und Palästina als auch zwischen Israel und seinen weiteren arabischen Nachbarn zu erreichen.
Wasser, Infrastruktur, Klimawandel
Bei einem Treffen mit dem saudi-arabischen Außenminister Prinz Faisal bin Farhan al-Saud und dem Generalsekretär der Arabischen Liga Aboul Gheit im Februar haben wir uns darauf verständigt, die arabische Friedensinitiative von 2002 wieder aufleben zu lassen und um das europäische Friedenspaket zu ergänzen. In diesen Bemühungen werden wir eng mit anderen arabischen und internationalen Partnern zusammenarbeiten.
In diesem Prozess geht es darum, zu skizzieren, wie Israel und Palästina in die Region integriert werden können, wenn sie Frieden schließen. Wir müssen überlegen, welche Art von sicherheitspolitischer, politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit der Frieden erlauben würde und wie alle Parteien dann gemeinsame Herausforderungen in den Bereichen Wasser, Energie, Infrastruktur und Klimawandel angehen können.
Dies ist der Moment, um nachzudenken, was wir alle zum israelisch-palästinensischen Frieden beitragen können, sobald dieser kommt. Es liegt auf der Hand, dass weder die europäischen noch die anderen Beiträge umgesetzt werden können, wenn es nicht zu einem israelisch-palästinensischen Friedensabkommen kommt – und wir sollten nicht davon ausgehen, dass unsere Unterstützungszusagen ausreichen, um dieses Ergebnis herbeizuführen. Dennoch ist es dringend notwendig, die derzeitige Abwärtsspirale der Gewalt zu stoppen, und wir können eine entscheidende Rolle dabei spielen, den Parteien zu helfen, ihre Optionen zu durchdenken.
Um es klar zu sagen: Ich kündige keine europäische Friedensinitiative an. Aber zum jetzigen Zeitpunkt überlegen wir mit anderen, wie wir uns auf den Tag vorbereiten können, an dem Israelis und Palästinenser zu Frieden bereit sind. Wir können diesen Tag näherbringen, indem wir ein klareres Bild davon zeichnen, wie ein regionaler Frieden aussehen würde. Und Ehrlichkeit erfordert auch die Einsicht, dass wir es uns nicht leisten können, noch länger zu warten.
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