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Ein Land in Aufruhr

Ein Land in Aufruhr
(Alain Rischard/editpress)

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Frankreich ist unzufrieden mit sich und dem Ausland

Seit Wochen erschüttern Proteste die französische Gesellschaft, beunruhigen die europäischen Nachbarn. Das Aufbäumen tausender Jugendlicher und gestandener Beschäftigter ist Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit mit einer politischen Führung, die vor drei Jahren das Blaue vom Himmel versprach, bisher jedoch innenpolitisch durch befremdende Konzeptlosigkeit glänzte. Die EU, gerne als Mutter aller europäischen Übel beschimpft, verstärkt mit ihrem oftmals unverständlichen Jargon das Unbehagen über Politik und führende Politiker.

Paradebeispiel für die unverstandene, Ängste verursachende EU-Politik ist das geplante Freihandelsabkommen mit den USA, TTIP. Frankreich, das auf seine Produkte „Appellation d’origine contrôlée“ besonders stolz ist, riskiert, mit einem Freihandelsabkommen die Oberhoheit über Champagne, Brie und Camembert zu verlieren. Denn Schaumwein und Weichkäse mit derselben Bezeichnung werden seit Jahren in den USA produziert. Deren Produzenten wollen ihre Ware mit dem in der EU geschützten Namen auf Europas Märkte bringen.

Was Luxemburger Metzgern seit einigen Jahren verboten ist, nämlich Grillwürste als Thüringer zu verkaufen, würden US-Fleischer dank TTIP in Zukunft problemlos in Europa tun dürfen. Genießer von italienischem Hartkäse müssten in Zukunft nicht nur zwischen Parmigiano Reggiano und Grana Padano unterscheiden. Sie müssten genauer hinsehen, ob der Hartkäse unter der Bezeichnung Parmesan wirklich aus Italien stammt und nicht von einem unbekannten Käseunternehmen jenseits des Atlantiks.

Doch TTIP oder sein kanadischer Vorläufer

CETA allein erklären die Aufregung der meisten Franzosen natürlich nicht. Seit Jahren steckt das Land in einem schleichenden Abnutzungsprozess. Es büßt an Wettbewerbsfähigkeit ein. Ein stolzes Land wird von seiner politischen Führung global als Versager dargestellt, seine Beschäftigten als Ewiggestrige verunglimpft, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Dabei müsste sich die politische Elite selbst an die Nase fassen.

Unglaubwürdig ist, wer das Volk als unverbesserlich darstellt und dabei selbst immer wieder dieselben Köpfe auf die politische Bühne vorschiebt, wie etwa die Republikaner mit einem Alain Juppé, der bereits vor 20 Jahren als Premierminister scheiterte.

Was bleibt enttäuschten französischen Bürgern also noch, wenn sie nicht schon bei Wahlen den rechten Populisten des FN auf den Leim gingen, als ihren Protest auf der Straße auszudrücken? Klar, die Mehrheit schwieg auch bei den letztwöchigen Aktionen. Wie bei politischen Protesten üblich traut sich stets nur eine Minderheit auf die Straße. Doch in Frankreich steht diese schweigende Mehrheit hinter den Protesten.

Eine Mehrheit befürwortet, so Umfragen, die Rücknahme des umstrittenen Gesetzesentwurfs zur Arbeitsrechtsreform bzw. eine ernsthafte Diskussion mit allen Gewerkschaften. Dem wird die Regierung Rechnung tragen müssen, will sie die spärlich verbliebene Glaubwürdigkeit nicht auch noch verlieren.
Man mag Proteste, Straßenblockaden, Streiks gutheißen oder ablehnen: Respekt verdienen ihre Teilnehmer allemal. Lieber laut schreien als gebückt alles hinnehmen und lautstark am realen oder virtuellen Stammtisch pöbeln.