In etwas mehr als zwei Wochen werden die Briten darüber entscheiden, ob sie weiterhin der Europäischen Union angehören wollen oder nicht. Dass sich ein Großteil der Wähler, vor allem der Seite der Brexit-Befürworter, vermutlich weniger von rationalen Argumenten als vielmehr vom Bauchgefühl wird leiten lassen, dürfte nicht verwundern. Denn eines ihrer Hauptargumente für den EU-Austritt, die Einwanderer aus der EU würden die sozialen Systeme des Landes überlasten, wurde bereits mehrfach widerlegt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Da in der EU jedoch niemand den Briten eine weitere Ausnahmeregelung zugestehen will, schon gar nicht, wenn es sich um ein so grundlegendes Prinzip wie die Personen-freizügigkeit handelt, müssen sie nun ihre Entscheidung treffen.
Viele auf dem Kontinent sind die Extrawürste leid, die sich London in all den Jahren hat in Brüssel braten lassen. Selbst unter EU-Enthusiasten sind zunehmend mehr der Ansicht, man sollte die Briten doch einfach ziehen lassen. Es wäre vielmehr eine Chance für die Europäische Union, die den in vielen Bereichen nötigen Integrationsprozess dann ohne die Bremser von der Insel weiter voranbringen könnte. Insofern ist die Idee, den britischen Wählern den Austritt zu empfehlen, schon verlockend.
Die Briten haben schon immer mit der Europäischen Union gehadert. Immerhin ist es bereits das zweite Mal innerhalb von etwas mehr als 40 Jahren, dass sie sich kollektiv die Frage stellen, ob sie sich so eng an den Kontinent binden wollen oder nicht. Geradezu unlauter hingegen ist der Vorwurf an die Partner auf dem Festland, Großbritannien habe sich eigentlich nur einer Wirtschaftsunion anschließen wollen, von einer politischen Union sei damals keine Rede gewesen. Dabei war es ausgerechnet der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill, der in seiner Rede in Zürich im Jahr 1946 die Menschen von den Vereinigten Staaten von Europa träumen ließ. Und spätestens mit dem Maastricht-Vertrag und der darin vorgesehenen Wirtschafts- und Währungsunion war klar, dass die EU alles andere als eine simple Freihandelszone sein würde.
Eine politische Union lässt sich einfacher ohne die Briten umsetzen. Zu erwarten ist, dass nach einem Sieg der Brexit-Befürworter ein Ruck durch die anderen 27 EU-Staaten geht und diese sich Gedanken über grundsätzliche Fragen machen. Etwa darüber, wie weit sie zusammenarbeiten wollen, wie weit ihre Solidarität reicht oder sie bereit sind, auf ihre Souveränität zu verzichten. Angesichts der derzeitigen Krisen und den damit einhergehenden politischen Entwicklungen, wie vor allem der Zunahme populistischer Bewegungen, ist es an der Zeit, dass die Europäer grundsätzliche Diskussionen führen. Insofern könnte ein Brexit auch eine Chance für die Europäer darstellen. Offenbar wird die EU nur stärker, wenn sie sich aus einer Krise heraus weiter entwickeln kann oder muss. Dazu bedarf es zwar nicht unbedingt eines Austritts Großbritanniens. Doch sollten die Briten es vorziehen, sich zu isolieren, dürfte es den Kontinental-Europäern leichter fallen, ihre Bande noch enger zu knüpfen.
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