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Hartes Pflaster oder Yuppie-Viertel

Hartes Pflaster oder Yuppie-Viertel
(Jörg Carstensen)

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Die Kriminalität am Kottbusser Tor hat Kreuzberg bundesweit in die Schlagzeilen gebracht – zugleich wird das Viertel immer schicker. Wie passt das zusammen?

Berlin-Kreuzberg ist voller Kontraste. Gerade wird viel über das Kottbusser Tor geredet und geschrieben. Taschendiebstähle, Überfälle, Drogen: Die Gegend ist ähnlich verschrien wie es vor zehn Jahren die Rütli-Schule im benachbarten Neukölln war. Gleichzeitig wird das Ausgehviertel teurer und voller. Investoren verdrängen Mieter durch Luxuswohnungen, billige Restaurants machen ihr Geld mit Partytouristen. Zum 1. Mai richten sich die Blicke wieder auf diese Ecke von Berlin: Bleibt es ruhig oder bestimmen Krawalle das Bild?

Als Brennpunkt schafft es Kreuzberg bis in die ARD-«Tagesthemen». Wer dort wohnt, muss mit besorgten Anrufen der Eltern rechnen: «Was ist denn da los?». Dabei geht es beim Kottbusser Tor um eine kleine Fläche, die sich in Fußballfeldern misst, in einem Stadtteil mit 150.000 Einwohnern, der auch verschlafene Ecken hat. Der «Kotti» ist ein Medienphänomen ähnlich wie die Rütli-Schule. Er ist ein Symbol für das angebliche Scheitern von Multikulti und eine hilflos wirkende Stadt.

«Hemmschwelle ist niedriger»

Es gibt wenig zu beschönigen: Am Kottbusser Tor ist es schlimmer geworden mit der Kriminalität. «Die Gewalt-Hemmschwelle ist niedriger geworden», räumt die Kreuzberger Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) in einem RBB-Interview ein. «Halten Sie die Tasche fest», rät der Imbissverkäufer. Resigniert erzählt er, dass die Drogenhändler nach einer großen Kontrolle am nächsten Tag alle wieder da gewesen seien.

Die Polizei zählt seit Mitte des vergangenen Jahres deutlich mehr Diebstähle, Raubüberfälle und Körperverletzungen. Einige Taschendiebe und «Antänzer» kommen aus Tunesien und Marokko: Das fügt sich als Puzzleteil in eine größeren Debatte, die Deutschland «nach Köln» führt. Die Razzien wurden verschärft, auch gegen die vielen Drogenhändler. Dauerhaft ins Gefängnis geht aber kaum einer der festgenommenen jungen Männer.

Französische Schokoladentrüffel

Kreuzberg ist beliebt bei Hipstern und Rollkoffer-Touristen aus aller Welt. Ein schwul-lesbisches Ausgehviertel ist es sowieso. Das stolz gemeinte Graffiti «Homo Bar» weist den Weg zum «Möbel Olfe» in jenem 70er-Jahre Sozialbau, der den «Kotti» zu einer zugigen Ecke macht. Um die Ecke wirbt eine Weinbar mit Austern, es gibt französische Schokoladentrüffel und edle Neubauten. Ein 300 Quadratmeter großes Loft in «SO36» (benannt nach der alten Postleitzahl) wird inzwischen für 1,6 Millionen Euro angeboten.

Die Gentrifizierung, der teure Wandel eines Viertels, hat den ehemaligen Westbezirk, Hochburg der Hausbesetzerszene, nach dem Mauerfall mit Verzögerung erreicht. Erst war Berlin-Mitte an der Reihe, dann Prenzlauer Berg nördlich des Zentrums. Dann ging es im Uhrzeigersinn nach unten, wie Ulrike Treziak vom Friedrichshain-Kreuzberg Museum sagt. «Wir verlieren unsere Nachbarn und kleinen Geschäfte», klagt ihre Kollegin Ellen Röhner.

Engagement gegen Kriminalität

Den beiden Ur-Kreuzbergerinnen gefällt der Wandel nicht. Dass es stellenweise gewalttätig geworden ist und sich alte Damen nicht mehr in die Stadtbücherei trauen, wissen sie auch. Aber es passiere auch Positives im Viertel, betonen sie. Anwohner und Geschäftsleute engagieren sich gegen die Kriminalität und für den Zusammenhalt im Kiez. Dazu passt, dass die linke «Taz» der Gegend gerade eine Liebeserklärung gemacht hat: «Kotti, mon amour».

Am Sonntag wird sich zeigen, ob auch der 1. Mai anders geworden ist. Nächstes Jahr ist es 30 Jahre her, dass der Supermarkt «Bolle» bei Krawallen in Flammen aufging. Seitdem es ein Anwohnerfest gibt, ist es ruhiger geworden – aber auch voller. Die Randaliererszene aus der linksextremen Ecke ist geschrumpft. Bei Demos haben sie früher Läden «entglast», wie es im linken Jargon heißt. Nun stürmen junge Touristen das Straßenfest am 1. Mai, begeistert von billigem Bier, Cocktails in Plastikbechern und Joints. Der Arbeiterkampftag mutiert zur Open-Air-Party. Vielleicht ein Sinnbild für den ganzen Kiez.