Obwohl er noch viele andere Werke aufgenommen hat, ist Tennstedt den meisten nur als Mahler-Interpret in Erinnerung geblieben, wohl weil er in Deutschland nie so richtig anerkannt wurde und seine Triumphe eher in England und in den USA feierte. Warum dem so war, und dass Klaus Tennstedt bereits eine lange Musikerkarriere hinter sich hatte, als er im Oktober 1977 die 1. Symphonie von Mahler einspielte, das erfährt man in der jüngst erschienenen Biografie Klaus „Tennstedt – Besessen von Musik“ von Georg Wübbolt anlässlich des 25. Todestag des Dirigenten.
Ich liebe Mahler nicht, aber diesmal kapituliere ich, dank Tenn. Er ist mir ein höchst sympathischer Dirigent, niemals ‚clever’ oder oberflächlich, niemals seiner selbstbewusst, seine Liebe für das Stück macht es unwiderstehlich. Da sind viele dämonische Geister um ihn herum (wie sie auch um Gustav Mahler waren), Nerv, Schwung und Schärfe, Körpersprache ohne Show, es ist alles da, AUTHENTISCH, und genug für andere ‚Eminenzen’, die sich große Stücke davon abschneiden könnten, und Tenn hätte immer noch genug. Kurz: Endlich jemand, den man bewundern kann!
Endlich wieder einmal eine Biografie, die nicht vom musikwissenschaftlichen Standpunkt aus und somit aus der Distanz berichtet, sondern ein Buch, das sehr nahe an der Person Tennstedt dran ist und das zudem ein interessantes Zeitzeugnis darstellt, in dem wichtige Wegbegleiter des von Carlos Kleiber und Herbert von Karajan hoch geschätzten Dirigenten zu Wort kommen. Die komplizierte Beziehung zum übermächtigen Vater, die abenteuerliche Flucht aus dem Osten, seine Lehrjahre in der Provinz, der Tod seiner Tochter, die ambivalente Beziehung zu Kurt Masur, die großen Erfolge in England, Kanada und den USA: Georg Wübbolt folgt dem Menschen und Musiker Tennstedt von der Kindheit an bis zu seinem tragischen Krebstod. Illustriert mit vielen privaten Schwarzweiß-Fotos, konzentriert er sich dabei auf wesentliche Lebensabschnitte des Dirigenten und stellt dessen Unsicherheit und Unkontrolliertheit, aber auch dessen Genialität und Besessenheit immer wieder in einen zeit- und situationsbezogenen Zusammenhang, sodass sich die Biografie wie ein großer historischer Roman liest.
Persönlich und authentisch
Wübbolt schafft es immer wieder, mit Kommentaren und Rückblenden, mit persönlichen Statements und kritischem Blick den Leser auf rund 290 Seiten gefangenzunehmen. „Klaus Tennstedt – Besessen von Musik“ ist ein sehr persönliches und sehr authentisch wirkendes Buch, das an keiner Stelle in Vergötterung verfällt, aber trotzdem den Menschen und Künstler Klaus Tennstedt hautnah erleben lässt. Auf jeden Fall macht es Lust, sich die Aufnahmen von Klaus Tennstedt wieder anzuhören oder eben anzuschaffen.
Wer sich also gerne mit der großen Kunst dieses außergewöhnlichen Dirigenten bekannt macht, dem sei in erster Linie die Gesamtaufnahme der Symphonien von Gustav Mahler (EMI) ans Herz gelegt, vor allem was seine Interpretationen der 1., 2., 5., 6. und 8. Symphonie angeht. Empfehlenswert auch die Wagner-Auszüge mit Jessye Norman (EMI, die 4. und 7. Symphonie von Anton Bruckner (LPO). Besonders spannend sind die Live-Mitschnitte mit Werken von Dvorak, Bach, Prokofieff, Schubert und Beethoven (Testament) mit Karajans Berliner Philharmonikern, bei denen eine grandiose 8. Symphonie von Bruckner heraussticht. All diese Aufnahmen lassen in Klaus Tennstedt einen der genialsten Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennen und auch heute noch ist es nicht zu verstehen, warum dieser große Künstler in unseren Regionen so ins Vergessen geraten ist.
Zum Werk
Das Buch „Klaus Tennstedt – Besessen von Musik“ wurde coronabedingt im Eigenverlag gedruckt und existiert sowohl in gebundener Form (ISBN 978-3-910736-00-9) als auch als Taschenbuch (ISBN 978-3-910736-01-6) oder E-Buch (ISBN 978-3-910736-02-3). Der Autor Georg Wübbolt ist freischaffender Regisseur, Produzent und Autor. Er arbeitet seit mehr als 35 Jahren in den Bereichen Musik, Bühnenkünste und Dokumentarfilm für ARD, ZDF, 3 SAT und ARTE.
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