Rechts neben dem Tresen steht eine zierliche, junge Frau im samtweichen Abendkleid, aus deren Umhängetasche Houellebecqs La carte et le territoire unweigerlich nach Luft ringt. Und ich frage mich: Ist es sie, die sich lieber heute als morgen den Goldenen Schuss setzt? Rechts zieht ein Mann um die Mitte 40 vorbei. An seiner Hand hält er fürsorglich seinen jüngsten Sprössling. Und ich frage mich: Ist es er, der unverbesserliche Alkoholiker, von dem alle reden?
Vermutlich nicht! Und selbst wenn Amy Winehouse unter uns geweilt hätte, von der wir alle wissen, dass sie kokst und an der Flasche hängt, wäre ihr, aber auch uns verziehen, denn wir wissen, dass sie nicht stellvertretend für die Allgemeinheit, sondern lediglich für die Absonderlichkeit des menschlichen Lebewesens mit all seinen Schwächen und Stärken steht.
Allmählich bricht die Abenddämmerung herein, schleichend verstummt das lyrische Gezwitscher der Vögel, ein Unwetter zieht auf, Regen plätschert und unsere Herzen tauen auf. Wir schließen die Augen, versetzen uns hinein, in diese Idylle, die uns mit Vorfreude empfängt. Wir öffnen die Augen und sehen sie, dieses unglaublich reizende Geschöpf, die strahlende Gewinnerin der diesjährigen „Victoires de la musique“, das israelisch-französische Stimmwunder, das unser über alles geliebtes Cœur de Pirate in den Schatten stellte, hinter einem Flügel Platz nimmt und ihn mit besinnlichen Handbewegungen zum Weinen bringt: Yael Naim.
Singend und spielend erzählt sie aus ihrem Leben, wie sie damals, vor knapp zehn Jahren, nach Paris zog, wie sie einsam, wehmütig und mit gebrochenem Herzen in ihrem Schlafzimmer trostlose Songs komponierte. Freudestrahlend erinnert sie sich an die Begegnung mit David Donatien, den sie innig liebt und wertschätzt, der sie inspiriert und ihr dazu verhalf, dass sie im Jahr 2008 erstmals die potthässliche, doch heiß begehrte Trophäe der Victoires in der Kategorie „Musiques du monde“ in festlicher Kulisse zwischen Champagner und Foie gras in ihren Armen schaukeln durfte. Auch damals war Yael Naim im Großherzogtum zu Gast und sang sich in die Herzen ihrer Zuhörer, zaghaft und völlig unprätentiös.
Offenherzig und redselig
Am Freitagabend kehrte die begnadete Singer-Songwriterin mit ihrer im vergangenen Jahr erschienenen Platte „She Was A Boy“ (Tôt ou Tard Records) zu uns zurück, zeigte sich, wie gewohnt, kontaktfreudig und offenherzig, so offen, dass sie nicht davor zurückschreckte, sich an Rihannas Umbrella zu versuchen – einen Titel, den sie um ein Tausendfaches eindringlicher sang als die US-amerikanische Queen of Pop herself.
Und spätestens nach dem dritten Song, der ihr ohne ihre Begleitmusiker von den Saiten glitt, wünschten wir uns alle, dass wir sie in jeder gottverdammten Nacht, in der wir nicht zur Ruhe finden, per Knopfdruck zu uns ins Schlafzimmer bestellen könnten, damit sie uns mit ihrer bezaubernden und einverleibenden Stimme behutsam in einen friedlichen Tiefschlaf zu singen vermag.
WEB www.yaelweb.com
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