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Klangwelten: Keine Weihnachtsmusik

Klangwelten: Keine Weihnachtsmusik

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Damit "Last Christmas" erst gar keine Chance bekommt: Unsere Kulturredaktion hat sich vier Alben ausgesucht, die sie mehr oder weniger empfehlenswert findet.

Partyverweigerer?

Glasgow war musikalisch gesehen immer schon ein interessantes Pflaster. Seit dem Erfolg von Mogwai assoziiert man mit der schottischen Industriestadt auch gerne die teils verträumten, teils lauten instrumentalen Klänge des Postrocks. Dialects setzen diese Tradition gekonnt fort, klingen aber brachialer und knackiger als ihre schottischen Artgenossen – ihr Postrock erinnert mitunter an And So I Watch You From Afar, die vor kurzem in der Rockhal aufgetreten sind, und an unsere lokalen Mathrock-Helden Mutiny on the Bounty.
Gegründet hat sich die Band, wie Visions erzählt, nachdem drei der zukünftigen Bandmitglieder auf einer Party waren und feststellten, dass sie eigentlich keinen der Gäste so richtig ausstehen konnte. Man entschied sich dann, der Hypokrisie sozialer Verhaltensregeln nicht länger zu frönen und haute ab, um ein wenig zusammen zu musizieren.

Daraus resultierte nun ein Debütalbum, Because Your Path Is Unlike Any Other, eine durch und durch spannende Mischung aus Post-, Math- und Progrock.
Klingt Opener „Superluminal“ noch ein bisschen so, als müsste sich die Band erst warmspielen – der Song braucht, bis er in Fahrt kommt und adaptiert dann das Regelbuch des Postrocks ein wenig zu generisch –, weiß das anschließende „Light Echo“ sofort zu überzeugen. Hier erkennt man auch die für ASIWYFA so typischen Gang-Vocals und spürt, wie sich die raren Gesangelemente ganz demokratisch als weiteres klangliches Element in das komplexe Songgerüst einfügen.

Das wunderbare „I’m Not a Comedian“, dessen luftige Stakkatos sich nach und nach intensivieren, hätte man dank eines orgelähnlichen Gitarrenklangs fast reibungslos auf Mutiny on the Bountys Album „Trials“ unterbringen können. Überhaupt ist bei den Dialects Abwechslung Trumpf, die Songs zeigen sich allesamt spannend konstruiert, und wenn auch nicht jede Idee zündet, können alle Tracks dank herrlich vertrackter Gitarrenläufe und eines krachigen, verzerrten Bassspiels mit unerwarteten Kehrtwendungen und Verspieltheit punkten – hier spürt man deutlich den Prog-Einfluss der Band.
Letztlich ist „Because Your Path Is Unlike Any Other“ der beste Beweis, dass es kreativ fruchtbar sein kann, asozial zu sein.

Jeff Schinker gibt Dialects:  „Because Your Path Is Unlike Any Other“ 8 von 10 Punkten.


Grabrede ohne Worte

Sie sind eines von vielen Goldstücken, die man entdecken kann, wenn man sich die Sets des australischen Jazz-DJs DJ Mr Lob auf mixcloud.com anhört: Das amerikanische Hypnotic Brass Ensemble um die Gebrüder Cohran ist durch den eigenen Vater und Lehrer Phil Cohran, eine wahre Institution unter den Jazz-Trompetern, tief mit dem Genre verbunden. Gerne wagen die acht Brüder, die auch als „Bad Boys of Jazz“ bezeichnet werden, Ausflüge in den Hip-Hop sowie die Gypsy Music. Mit ihren Blechblasinstrumenten katapultieren sie die Zuhörer für gewöhnlich in andere Welten, und zwar mit einer ungebrochenen Dynamik und einer fast schon einschüchternden Kraft. Nun ist ihr Lehrmeister und Vorbild im Februar verstorben und sie verabschieden sich mit „Book of Sound“ von ihm. Es klingt wie stilles, respektvolles Gedenken und könnte der Soundtrack zu einer Totenmesse sein, ohne jedoch morbide Stimmung aufkommen zu lassen.

Gewiss kannte man schon leise Töne vom Ensemble, aber nun hat die neue Scheibe schon fast etwas Spirituelles. Während das Adjektiv „hypnotisch“ beim vorherigen Album weniger passte, wird man hier durch sehr sanfte, leise und repetitive Klänge in Trance versetzt. Statt mitzureißen, verstehen es die Herren, andere an ihrer eigenen Meditation teilhaben zu lassen. Allein das Klangbild hat etwas Kathedralen-artiges, einzelne Gedanken hallen von Song zu Song wieder. Wie man es vom HBE gewöhnt ist, wird weitestgehend auf Vocals verzichtet („Purple Afternoon“), manchmal werden nur bestimmte Töne gesungen oder einzelne Wörter wiederholen sich wie Mantras („Now“, „Lead the Way“).

Allein schon Titel wie „Morning Prayer“, „Heaven and Earth“, „Royalty“ sprechen durch die Wortwahl für sich. Auch der Song „Solstice“ (Sonnenwende) zeigt, dass nun eine neue Zeit anbricht. Sieht man dieses Album wie ein Protokoll zu einer musikalisch umgesetzten Therapie, so kann der Mix aus Spiritual Jazz und elektronischen Klängen spannend sein. Wer sich jedoch nach energiegeladenem Brass Sound sehnt, ist bei diesem Album definitiv an der falschen Adresse. Daher lohnt sich ein Ohrenblick in die Diskografie der acht Musiker, denn diese hält noch ganz andere Emotionen bereit.

Anne Schaaf gibt Hypnotic Brass Ensemble: Book Of Sound 6 von 10 Punkten.


Impressionistischer Sibelius

Sir Simon Rattle bietet eine sehr individuelle Leseart der sieben Symphonien von Jean Sibelius, bei der es viel Licht, aber auch viel Schatten gibt. Phänomenal bei allen sieben Symphonien: das Klangbild (SACD) und das Spiel der Berliner Philharmoniker. Schöner und transparenter kann man diese Werke auf Tonträger sicherlich nicht hören. Hat man sich aber einmal an die fantastische Klangdynamik und den ungeahnten Farbenreichtum gewöhnt, so kommt man doch sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurück.

Die Symphonien Nr. 1 & 2 klingen zwar wunderschön, können den Hörer aber nirgendwo so richtig packen. Das liegt daran, dass Rattle alle Kanten abrundet und auf ein sehr homogenes, rundes und sanftes Klangbild setzt. Das Kantige, das Ursprüngliche, das Wilde und kalte, das aber ebenso in Sibelius Werken vorhanden ist, wird von Rattle nicht berücksichtigt. Die besten Aufnahmen aber sind wohl die der 3. & 4. Symphonie, hier gelingt es Rattle, ungeahnte Klangräume zu schaffen und ein enorm atmosphärisches Spiel anzubieten.

Gut gelingen ihm die drei letzten Symphonien, die er sehr hymnisch dirigiert. Der wunderbaren Fünften aber fehlt es an Persönlichkeit; der melodische Fluss läuft für Sibelius’ Verhältnisse zu ruhig. Schön die pastorale Sechste und gewaltig die Steigerungen in der Siebten. Das ist beste Dirigierkunst, doch im Vergleich mit seiner ersten, spannenderen Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, mit Sir Colin Davis unübertroffener Bostoner Gesamteinspielung, mit der wilden Urgewalt von Roschdestwenskis russischer Aufnahme oder der kühlen, modernen Interpretation durch Petri Sakari und das Iceland Philharmonic Orchestra hinkt Rattles Neueinspielung hinterher.
Andererseits kann man gerade diese eigenwillige Sichtweise loben, denn so konsequent impressionistisch (Debussy lässt grüßen), so stimmungsvoll und farbenfroh hat noch kein Dirigent gewagt, die Werke aufzuführen. Die Dissonanzen, die in einem Essay im Booklet von Glenda Dawn Goss evoziert werden, spielen in dieser Gesamtaufnahme nur eine Nebenrolle. So bleibt es am Ende eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob man diese Art der Sibelius-Interpretation nun mag oder eben nicht. Für mich war sie interessant, aber nicht zwingend.

Alain Steffen bewertet die «Jean Sibelius Symphonies» mit 7 von 10 Punkten.


Winterreise im Volkston

Unter den viel hervorragenden Aufnahmen der Winterreise von Franz Schubert sticht diese neue Einspielung mit Wolfgang Bankl, Bass, und Florian Krumpöck, Klavier, besonders hervor. Meistens wird die Winterreise im Sinne der Interpretationslinie eines Dietrich Fischer-Dieskau interpretiert, intellektuelle Auslegung, perfekte Stimmführung, ernster Vortrag. Nun, Wolfgang Bankl geht die Winterreise etwas lockerer an.
Sein Gesang ist erstaunlich leicht und sein flexibler Bass lässt alle Schwere und Todesahnung missen. Stattdessen ist der Ton versöhnlicher, volksnäher, populärer. Bank agiert hier im Sinne eines Minnesängers und erzählt die Geschichte, die durch seinen wunderbar intensiven Vortrag einen wirklich narrativen Charakter erhält. In diesem Sinne wird es dem Zuhörer leichter fallen, sich auf Gesang und Text einzulassen.

Interessant bei dieser klanglich übrigens hervorragenden Aufnahme von Preiser Records ist das Klavierspiel von Florian Krumpöck, das sich dem eher lockeren Vortragsstil diametral gegenüberstellt. Krumpöck spielt den ernsten, todesnahen Part und lotet den Klavierpart mit einer fast schmerzhaften Intensität und einem sicheren Gespür für innere seelische Abläufe ab, wie man es nur ganz selten auf CD erlebt. Überhaupt ist es Krumpöck, der hier einen ganz neuen Klangkosmos schafft, fast unbemerkt, im Hintergrund agierend, doch am Ende sehr präsent spielt und Wolfgang Bankl einen idealen Klang- und Ausdrucksteppich bietet.

Man spürt, dass sich der Sänger sehr wohl mit Krumpöck als Partner fühlt und gerade deshalb diese Winterreise sehr frei und entspannt genießen kann. Und so ist diese Neuaufnahme mit z.T. erstaunlichen langsamen Tempi eine lohnenswerte Alternative und ein wichtiger Beitrag zur Schubert-Rezeption.

Alain Steffen bewertet die «Franz Schubert Winterreise» mit 10 von 10 Punkten.