Perücken und Verkleidungen jeder Art in allen möglichen Farben prägen das Bild der größten Straße vor dem Maracanã. Von den drei Musketieren über den ecuadorianischen Kondor bis zur Sol de Mayo der uruguayischen Fahne ist jede Verkleidung zu finden. Dass hier ein WM-Spiel ausgetragen wird, kommt einem nicht sofort in den Sinn.
Eher wähnt man sich in einer kleinen Version des Karnevals von Rio. Zwar erkennt man unter den meist liebevoll und detailverliebten Verkleidungen, welche beiden Mannschaften gegeneinander antreten, welches Team sich in welcher Ausgangsposition befindet, ist jedoch schwer festzustellen. Sowohl vor als auch nach dem Spiel strömen Zehntausende fast ausnahmslos gut gelaunt in bzw. aus dem Maracanã und feiern sich selbst. Als seien die 90 Minuten Fußball nur eine Pause im Karnevalsprogramm.
Die Leidenschaft für das jeweilige Heimatland ist zwar sofort erkennbar, ob die Zuschauer allerdings mit derselben Intensität beim Spiel an sich mitfiebern, bleibt des Öfteren zweifelhaft, denn auch im inneren des Maracanã herrscht eine eher ungewohnte Fußballstimmung. So wird beispielsweise, um dem von der FIFA verordneten «familienfreundlichen Ambiente» gerecht zu werden, an allen Ecken Popcorn verkauft. Eine ungewöhnliche, leicht lethargische Kino-Atmosphäre macht sich breit, die bei vielen nur durch die Stadionkamera durchbrochen wird. Sobald man sich auf der Stadionleinwand sieht, wird frenetisch gejubelt, ob die eigene Mannschaft untergeht oder einen Kantersieg einfährt, scheint ganz egal zu sein.
Ende des Volkssports
Zudem behindert die vor und nach dem Spiel aus den Lautsprechern dröhnende, in Endlosschleife laufende laute Popmusik die Entfaltung von individuellen nationalen Sprechgesängen. Der neutrale Zuschauer kennt zwar nach 90 Minuten jedes Wort des WM-Songs «We Are One» von Pitbull und Jennifer Lopez, was aber beispielsweise die ecuadorianischen Anhänger der «la Tri» singen, um ihre Mannschaft anzufeuern, bleibt ein Geheimnis. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Beim Achtelfinale zwischen Kolumbien und Uruguay machte sich im Fußballtempel Maracanã zeitweise eine eindrucksvolle Stimmung breit.
Die Fangesänge schafften es sogar, Jennifer Lopez zu übertönen. Auch während des Spiels fieberten beide Fanlager mit, was in mehreren Zuschauerblocks zu kurzzeitigen gewaltsamen Auseinandersetzungen führte. Dennoch bleibt der Eindruck, dass die große Mehrheit der 73.800 Zuschauer einer Upperclass angehört, die meist nicht mit Fußball in Berührung kommt. Zu sehr dominieren Selfies, Popcorn und Privatgespräche die Zuschauerreihen während des Spiels.
So werden spannende Spielzüge etliche Male nicht mit Applaus oder Sprechgesängen, sondern gleichgültig mit der Bestellung einer weiteren Packung Popcorn quittiert. Auch in einer spannenden Schlussphase ist der Drang nach einem Cheeseburger oft größer als das Mitfiebern. Tatsächlich sind die eingefleischten traditionellen Fußballfans vom Stadionerlebnis ausgeschlossen. Zwar hat die FIFA für Brasilianer einen besonderen Eintrittspreis von umgerechnet circa 20 Euro eingeführt, bei einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet circa 940 Euro im Monat ist dies dennoch für die meisten Brasilianer viel zu teuer. Der ehemalige Volks- entwickelt sich demnach zu einer Art Elitensport.
Bleibt vielen nur der Gang zur kostenlosen Fanmeile, die von der FIFA den Namen «FIFA Fan Fest Rio de Janeiro» erhalten hat, wobei mit dem Wort «Fest» deutlich untertrieben wurde. Der Strandbereich gleicht eher einem Ableger von Disneyland. Gleich hinter dem Eingang befinden sich interaktive Spiele, ein 3D-Kino und eine Art Achterbahn. Zwischen zahlreichen angeworbenen Autos fällt nur einem geschulten Auge die Großleinwand am anderen Ende der Fanmeile auf.
Zwar entwickelte sich selbst in einem Spiel wie Costa Rica gegen Griechenland, das zwar durchaus Spannung bot, aber kein Publikumsmagnet ist, eine ansehnliche Fußballstimmung inklusive Fangesängen, dennoch kommt man sich zwischen den Ständen der zahlreichen Sponsoren der FIFA nicht wie ein Fan, sondern wie ein umgarnter potenzieller Käufer vor.
Mit Weltmeistern am Strand
Auch hat man den Eindruck, dass brasilianische Fußballfans ihrer Mannschaft tendenziell woanders die Daumen drücken, nämlich in brasilianischen Cafés. Meidet man die Touristencafés an der Copacabana, findet man kleinere Cafés in liebevoll geschmückten Straßen, in denen Einheimische bei einem kalten Bier die WM verfolgen und fleißig mit großem Einsatz der Körpersprache diskutieren.
Außergewöhnliche Fußball-Momente lassen sich allerdings mit etwas Glück auch zwischen den Merchandising-Events am Strand von Rio finden. Da kann es durchaus vorkommen, dass zwei ehemalige französische Weltmeister (Bixente Lizarazu und Christian Karembeu) zusammen mit einem Meistertrainer (Arsène Wenger) am Strand von Ipanema mit Touristen Footvolley – eine Mischung aus Fußball und Volleyball – spielen und sich hiernach bereitwillig fotografieren lassen. Das gibt es so wohl auch nur in Rio.
Letztlich haben die folkloristische, gekünstelte Stimmung rund um das Maracanã und die Fanmeile einen positiven Nebeneffekt. Weil das Spielergebnis vielen Zuschauern egal ist, bleiben gewaltsame Auseinandersetzungen die absolute Ausnahme. Wenn einem eine Niederlage oder das Ausscheiden der eigenen Mannschaft gleichgültig ist, können einem die Schmähgesänge des Gegners nichts anhaben. Hauptsache, man war beim Event «Fußball-WM» dabei.
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