Und tatsächlich: Die etwas heruntergekommenen Straßen der Stadt, die einem präsentiert werden, sind kurz in gespenstische Stille getaucht. Man erwartet schon fast, eine einsame Figur à la Omega Man-Charlton Heston oder Vanilla Sky-Tom Cruise durch die Straßen streifen zu sehen. Stattdessen liegt ein junger Mann auf einem weißen Pferderücken. Der Traumzustand hält aber nur wenige Augenblicke an. Schon einen Schnitt später ist Medellín wieder seinem geschäftigen Treiben überlassen. In diesem alltäglichen Chaos stellt uns die kolumbianische Regisseurin Laura Mora Ortega die Protagonisten ihres Films „Los reyes del mundo“ („The Kings of the World“) vor.
Fünf Jungs führen einen Kampf ums Überleben – gleich zu Beginn, wir kennen noch nicht einmal die Namen, wird sich mit selbstgebastelten Macheten auf fremdem Stadtterrain verteidigt. Es kommt aber niemand zu Schaden und die Jungs können auf den letzten Drücker die Flucht ergreifen.
Rá, mit 19 Jahren der Älteste, wird kurze Zeit später ein Brief überreicht, auf den er schon sehr lange gewartet hat. Ein Wiedereinsetzungserlass der Regierung sieht vor, ihm das bisschen Land, welches seiner „abuela“, seiner Oma, vor Ewigkeiten weggenommen wurde, zu übergeben.
Ein lang ersehnter Hoffnungsschimmer für Rá und seine Freunde, seine neue Familie, denn für die verlorenen Jungs gibt es auf den Straßen von Medellín keine Zukunft. Sie entscheiden, mit dem offiziellen Schreiben in Händen, ihr Glück auf dem Land zu machen und sich eventuell dort eine Zukunft aufzubauen. Und so wird aus einem Film, der den Anschein eines weiteren „Citade de Deus“-Riffs abgibt, ein Roadmovie ins Herzen Kolumbiens.
Es gibt Entwicklungen in der Welt, von denen liest und hört man tagtäglich in den Medien, von anderen in den sozialen Netzwerken, und dann gibt es welche, die in unseren Breitengraden oft nur eine Randnotiz oder Kurzmeldung wert sind. Wenigstens im Kino, dem sogenannten „Weltkino“, erfährt man von den gesellschaftlichen Entwicklungen eines Landes wie zum Beispiel Kolumbien – ein Land, welches über Jahrzehnte bürgerkriegsähnliche Zustände durchleben musste. 2017 kam es dann zur Entwaffnung der in Lateinamerika aktivsten Guerillaorganisation FARC. Aber der Frieden war nicht von langer Dauer. Es ist alles sehr unübersichtlich, aber unter dem Strich haben sich neue Gruppierungen gebildet, die mit Gewalt gegen die Regierung vorzugehen gedenken. Kolumbien bleibt ein heißes Pflaster.
Wenn die Geschichte der Jungen, der titelgebenden „Könige der Welt“, nicht klar zeitlich eingebettet ist, so bleibt der allgemeine gesellschaftliche Kontext wie eine tief hängende Nebelschwade, derer sich die Protagonisten nicht bewusst werden, über ihren Köpfen hängen.
Ein geerdetes Märchen
Sie sind mit Gewalt aufgewachsen und wissen oft nicht, wie sich anders ausdrücken als durch ebendiese. Gleichzeitig sind hinter diesen abgehärteten und aggressiven Fassaden junge Menschen zu erkennen, die sich nach nichts anderem sehnen als nach einer fairen Chance auf so etwas, was man Leben nennen kann.
Laura Mora Ortega inszeniert diese Geschichte wie ein sehr geerdetes Märchen – siehe Titel und das immer wiederkehrende Bild des weißen Pferdes –, welches seine märchenhaften Komponenten einerseits aus den vom Leben gebeutelten und dennoch strahlenden Gesichtern seiner Protagonisten holt, andererseits aus den majestätischen, von Kameramann David Gallego eingefangenen Naturbildern.
Gallego hat seine Fähigkeiten in Zusammenarbeit mit dem kolumbianischen Regissuer Ciro Guerra perfektioniert – mit dem ihrerseits Mora Ortega 2019 für eine Netflix-Miniserie zusammengearbeitet hat. Die Natur der kolumbianischen Anden und des Dschungels ist im Film gleichermaßen verlockend und gefährlich. Von seinen Einwohnern nicht zu reden.
Mal werden die Jungs mit offenen Armen von Prostituierten aufgenommen, mal werden sie von Cowboys in ihrem Elan zurückgenommen und aufs Übelste zusammengeschlagen.
„Los reyes del mundo“ stellt seinen jugendlichen Protagonisten – ähnlich wie Tatiana Huezo in „Noche de fuego“ („Prayers for the Stolen“) – die harte Realität ihrer Länder gegenüber: hier Kolumbien, dort San Salvador. Beide Regisseurinnen interessiert es keineswegs, große politische Diskurse zu machen, sondern die Portraits einer scheinbar verlorenen Generation zu zeichnen.
Der Film ist weniger stilisiert als der andere und die Arbeit mit den Schauspielern resultiert in schon fast dokumentarisch rohen Leistungen vor der Kamera. Die mal hektische, mal elegische Kamera unterstreicht diese Herangehensweise umso mehr. Wer schon einige Filme aus diese Region gesehen hat, weiß, wie sie ausgehen, und das ist im Falle von „Los reyes del mundo“ nicht anders. Laura Mora Ortega liefert einen zum Teil sehr beeindruckenden Film ab, der, wie seine Figuren, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgeben will. Was bleibt einem denn sonst übrig?
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