Vor nun etwas mehr als zehn Jahren, im Dezember 2010, löste die Selbstverbrennung des jungen Mohamed Bouazizi den Arabischen Frühling aus. Binnen weniger Wochen kam es zu Massenprotesten über die ganze Breite des afrikanischen Nordens und des Nahen Ostens. Ben Ali aus Tunesien floh ins Ausland, in Ägypten trat Hosni Mubarak zurück, im Jemen trat Präsident Salih ab. In Lybien und Syrien brachen Bürgerkriege aus. Gaddafi ist zwar weg, aber in Syrien ist auch nach über 12 Jahren kein Ende in Sicht. Der Arabische Frühling war eine Zäsur in den arabischen Ländern, ein Hoffnungsschimmer, was allgemeine Menschenrechte anging. „Harka“, der Spielfilm von Lotfy Nathan, versucht sich in einer Bestandsaufnahme dessen, wie sich das Leben 10 Jahre nach dem Frühling für die Menschen in Tunesien, wo alles begann, präsentiert.
Die Situation ist ernüchternd. Das wird einem nach nur wenigen Filmminuten bewusst. Regisseur Nathan stellt uns eine schlaksige, müde Figur in der Person von Ali vor: Ein junger Mann, der einige Jahre zuvor seine Familie verlassen hat, um die gefährliche Reise nach Europa zu machen. Ali ist aber noch immer in Tunesien und schlägt sich mehr schlecht als recht durch seinen tristen Alltag. Die wenige Dinars in seinem Besitz verdient er sich als illegaler Straßenhändler von Benzin. Er lebt wie ein Obdachloser auf Baustellen und spart sich mühsam das Geld für die Überfahrt zusammen. Eines Tages steht seine Schwester vor ihm und teilt ihm den Tod des Vaters mit. Er kehrt mit ihr zurück nach Hause und wird damit konfrontiert, er solle sich doch bitte um seine beiden kleinen Schwestern kümmern. Der große Bruder hat nämlich einen Job als Kellner in einem Resorthotel an der Küste ergattert. Die eigentlich böse Überraschung kommt aber erst noch. Der verstorbene Vater hat seinen Kindern Schulden hinterlassen, die sie das Familienhaus kosten könnte, wenn sie nicht binnen weniger Tage die Geldsumme von 8.000 Dinar zusammenbringen. Ali versucht sein Bestes, greift aber irgendwann zu gefährlich verzweifelten Mitteln.
Wenn „Harka“ von Lotfy Nathan – einem in England gebürtigen und in den Vereinigten Staaten ansässigen Filmemacher mit tunesischen Wurzeln – etwas zeigt, dann die Tatsache, dass sich in Tunesien, hier stellvertretend für den kompletten arabischen Raum, so gut wie gar nichts verändert hat. Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch und eine beträchtliche Zahl an Menschen leben in Armut. Von den unzähligen Todesfällen bei Überquerungsversuchen des Mittelmeeres gar nicht mal zu reden.
Emblem für eine verlorene Generation
Was sehr oft übersehen wird beim Nation-Branding-Gedöhns um Vicky Krieps, ist die Tatsache, dass nicht nur sie den Preis der besten Performance (in der Kategorie „Un certain regard“ in Cannes) erhielt, sondern auch Adam Bessa für seine Rolle als Ali in „Harka“. Und tatsächlich: Sein Ali ist Emblem für eine „lost generation“ junger Tunesier, die für eine Veränderung standen (und oft mit dem Leben bezahlen mussten) und dennoch genauso mittellos dastehen wie vor der vermeintlichen Revolution. Nur, dass die Medien sich längst anderen Schauplätzen zugewandt haben. Es ist demnach Adam Bessa und Lotfy Nathan zu verdanken, diesem Frust, dieser Verzweiflung Ausdruck verliehen zu haben.
Regisseur Lotfy Nathan versucht auf seine bescheidene Art und Weise, dem Eindruck des „poverty porn“ entgegenzuwirken und rahmt die Handlung um Ali und seine Strapazen in ein Voice-over ein. Die Erzählstimme im Off ist die seiner Schwester, die so eine Brechtsche, epische Komponente hinzufügt – eine Art morgenländische Erzählung, die als Kontrapunkt zu den fast schon neorealistischen Bildern angesehen werden kann. Dem liegt eine gewisse Manieriertheit und Verkrampftheit inne, die der möglichen Universalität der Geschichte nicht immer zweckdienlich ist.
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