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KonzertSurfen mit Erdogan: Gaye Su Akyols Auftritt in der Kulturfabrik

Konzert / Surfen mit Erdogan: Gaye Su Akyols Auftritt in der Kulturfabrik
Mit ihrer rauchigen und kehligen Stimme übt die Psych-Rock-Ikone viel Gesellschaftskritik Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Nachdem ihr Auftritt in der Kulturfabrik Ende Februar wegen des Erdbebens in der Türkei abgesagt werden musste, gab es am vergangenen Samstag ein erstes Kennenlernen des luxemburgischen Publikums mit der türkischen Psych-Rock-Ikone Gaye Su Akyol.

Neben der türkisch-niederländischen Psychedelic-Band Altin Gün (die es bereits zweimal auf die Bühne der Kulturfabrik geschafft hat), ist Gaye Su Akyol der in unseren Breitengraden wohl bekannteste Export anatolischen Rocks – zumindest in seiner psychedelischen 70s-Variante. Vier Alben hat die in eine Künstlerfamilie geborene, studierte Sozialanthropologin herausgebracht, das letzte mit dem Namen „Anatolian Dragon“, mit dem sie jetzt auf Tournee ist.

„Peace, Love and Rock & Roll“ wünschte sie ihrem Publikum (und wohl auch der Welt) einleitend; schaute man sich um, dann war schnell klar, dass von den ungefähr 1.400 Türken, die zurzeit in Luxemburg leben, ein Zehntel davon den Weg nach Esch gefunden hatte.

Glitzerumhang, schwarze Lederhose und kniehohe Latexstiefel mit hohen Absätzen, so trat sie auf die Bühne. Das Band-Outfit dagegen minimalst: ein Schlagzeuger und ein Gitarrist/Keyboarder; der Bassist, so hieß es, hatte sich zur unpassenden Zeit den Arm gebrochen. Wer sich demnach auf „exotische“ Instrumente wie die elektrisch verstärkte Langhalslaute oder die Trichteroboe (auf den eingespielten Songs mitunter sehr präsent) gefreut hatte, wurde erstmal enttäuscht; falls sie zum Einsatz kamen, dann nur als Sample, und das sehr sparsam. Dadurch rutschte das Konzert auf der Klangfarben-Skala etwas nach unten, aber zum Glück war da die Stimme Su Akyols: ein „Über“-Instrument, rauchig und doch sehr fest, kehlig und ätherisch zugleich, reich an Modulationen und, wie in der nahöstlichen Kultur üblich, absolut raumgreifend.

Korruption und repressive Politik

„Consistent fantasy is reality“ vom gleichnamigen dritten Album „Istikrarli Hayal Hakikattir“ ist einer ihrer bekanntesten Songs und vermittelt unter seiner volksliedhaft-beschwingten Pop-Oberfläche ein Gefühl von Verlust und Trotz. Es war der zweite Song des Konzertabends in der Kulturfabrik. Wie in vielen ihrer Songs stemmt sie sich darin – auf eine poetische, metaphernreiche Art, aber „with gilettes“ – gegen die Vergiftung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch repressive Politik und die Zerstörung der einst so kosmopoliten und toleranten Stadt Istanbul durch Bauwahn und Korruption. Im Song „Hookah“ heißt es dazu: So you built your mansion / You adored its mortrar“ (Du hast dir also deine Villa gebaut / Du warst wohl in den Mörtel verliebt“).

„I’m living with camels“, vom 2014 erschienenen Erstling, ist „dem inneren und äußeren Kamel gewidmet“. Auch hier die ins Existenzielle gedrehte Doppeldeutigkeit, die sich klassische anatolische Songmuster zu eigen macht, um Gesellschaftskritik zu üben. Während „You are my cave“, zumindest in der Tournee-Variante, ein sehr Grunge-angehauchter „happy“ Song ist, der mit viel Fuzz und Echo (die Künstlerin wuchs mit Nirvana auf) daherkam, hatte „Seagulls kiss, cats make love“ vom letzten Album an dem Abend so viel Surfgitarre zu bieten, als hätte sich Dick Dale im Orient verlaufen.

Trotzdem ist die stolze Künstlerin, über Surf- und Psych-Rock hinaus, dem traditionellen musikalischen Erbe ihres Heimatlandes und seinen Folklegenden wie Tatyos Efendi (1855-1913) und Selda Bagcan (*1948), denen sie in der Kulturfabrik huldigte, eng verbunden.

Das türkischstämmige Publikum quittierte jede ihrer Ausführungen (ein paar davon auf Englisch, die meisten aber nicht) mit entsprechendem Applaus. Als sie auf die bevorstehenden Wahlen in der Türkei zu sprechen kam, freilich in der Landessprache, hatte man auch ohne Türkischkenntnisse und Gespür für Zwischentöne verstanden.

Und dass sie von Erdogans Polizei schon mal über den Inhalt ihrer Lyrics befragt wurde (beim Erzählen dieser Anekdote, die wahrscheinlich fester Bestandteil jedes Konzerts der aktuellen „Anatolian Dragon“-Tournee ist, ertönte dabei via Sample Schafgeblöke), dass die Financial Times sie als „Albtraum Erdogans“ bezeichnete, lässt erahnen, wie couragiert die Musikerin ist. Von einem Mann, dessen einzige Sprache die Drohgebärde zu sein scheint (gerne mit dauererigiertem Zeigefinger), lässt sie sich auf jeden Fall nicht einschüchtern.

Alle Macht den Träumen! Oder eben: „Peace, Love and Rock & Roll!“