Von Anne Schaaf, zz. in Cannes
Das Tageblatt ist ab heute auf den Filmfestspielen von Cannes unterwegs. Unsere Journalisten lesen für Sie zwischen den Programmzeilen.
Die Dame am Schalter war sichtlich geniert, als sie mir mitteilte, dass ich aufgrund des Streiks der französischen Bahnmitarbeiter erst am Donnerstag, also nach Festivalbeginn aufbrechen kann. Ich musste unverhofft an die Mai-Unruhen von vor 50 Jahren denken; an die zahlreichen Proteste wie auch den Generalstreik, der damals große Teile des Landes lahmlegte und sich ebenfalls auf den 21. Filmfestspielen in Cannes bemerkbar machte.
Manche Medien sprechen bis heute von der «kleinen Cannes-Revolution», die seinerzeit unter der Federführung von Jean-Luc Godard und François Truffaut nicht nur für Unruhe sorgte, sondern zu einem frühzeitigen Abbruch des Festivals führte. Scheinbare Gleichgültigkeit und mangelnde Solidarität wurden angeprangert. Man dürfe nicht tatenlos rumsitzen, während im eigenen Land anderenorts Menschen auf den Straßen kämpften, hieß es.
Auf der Ebene des politischen Protests inner-, aber auch außerhalb Frankreichs besteht mehr als nur eine Parallele zur heutigen Situation. Ob es jedoch zu einer erneuten Revolution an der Croisette kommen könnte, ist äußerst fraglich. Ersten Berichten zufolge beschäftigen sich dort derweil nicht gerade wenige Stars eher damit, über das Selfieverbot auf dem roten Teppich zu lamentieren, der, wie vermeldet wird, bereits jetzt ausgewechselt werden muss, weil er der Armee am Pumps nicht gewachsen ist …
Die Liste der Kommentare zu den Kleidern der zahlreich anwesenden Prominenten wirkt so endlos wie die menschliche Dummheit. (Ein Schelm, wer eine Korrelation zwischen beidem zu erahnen glaubt.) Es wird scheinbar lieber über die Hosenanzüge der vier Jurorinnen um Cate Blanchett – die sage und schreibe zwölfte weibliche Leiterin der Jury in mehr als 70 Jahren Festivalgeschichte – diskutiert, als über die Tatsache, dass bisher lediglich eine Frau, nämlich Jane Campion die Palme d’or mit nach Hause nehmen durfte. Ganz ausgefuchst wirkt denn auch die Analyse mancher Journalisten und Journalistinnen, die in der Friese des Jury-Mitglieds Kristen Stewart einen rebellischen Akt erahnen, da sie einen unkonventionell geflochtenen Zopf bei der Eröffnung trug. Man muss sich in diesem Kontext leider – passend zum Thema – fragen, ob man im falschen Film ist.
Gesprächsbedarf
Ein gestresster Griff ins heimische Bücherregal beim hastigen Packen des Koffers scheint nun ansatzweise Abhilfe zu schaffen: In Amos Vogels «Film als subversive Kunst» aus den frühen 70ern widmet sich der bekannte Filmkritiker im ersten Kapitel naturwissenschaftlichen, philosophischen sowie politischen Aspekten der subversiven Kunstform. Direkt zu Anfang gibt Vogel zu bedenken, dass wir nur einen Teil des Farbspektrums visuell erfassen und somit lediglich einen kleinen Prozentsatz dessen, was uns umgibt, wahrnehmen können. Dies führt laut Vogel zu dem Umstand, dass das, was wir Realität nennen, nur eine verzerrte Teilansicht des Realen ist. Während ich diese Zeilen las, passierten vor meinem inneren Auge all jene Selbstbildnisse, die das Sichtfeld noch weiter einschränken, und leider muss man feststellen, dass diese starre Perspektive nicht nur etwas mit der visuellen Wahrnehmung zu tun hat.
Denn bei den 71. internationalen Filmfestspielen in Cannes besteht durchaus anderer Gesprächsbedarf. Ist es als bahnbrechend zu deuten, dass während der Dauer des Festivals eine Hotline in Kraft ist, auf der Frauen sexuelle Belästigungen melden können, die sie auf der Croisette erfahren? Oder ist dies ein pressetaugliches Zugeständnis, das letztlich aber nur zeigt, dass – wie so oft – eher Symptome behandelt werden, als dass wirklich gegen die Auslöser vorgegangen wird? Statt dass Themen wirklich öffentlich diskutiert und verhandelt werden, findet das Festival in einer Zeit statt, in der, wie nie zuvor, unter anderem Produktionsfirmen nicht aus Solidarität, sondern Imagegründen in die Knie gehen und Schauspieler ohne Prozess entlassen, um der öffentlichen (nicht selten desinformierten) Meinung vorzugreifen.
Die #Metoo-Debatte macht erst dann Sinn, wenn sich wirklich mit ihr befasst und nicht nur panisch vor ihr geflüchtet wird. Betrachtet man diesen Trend zum vorauseilenden Gehorsam, so wirkt das Begnadigen des Filmemachers Lars von Trier, der sich 2011 gewohnt provokant und nicht gerade elegant mit Sympathie-Bekundungen für Hitler wenig Freunde gemacht hatte, umso diffuser. Mal sehen (und hören), wie er sich bei dieser Festival-Ausgabe wieder ins Gespräch bringt, obwohl er damals eigentlich verkündet hatte, sich nie mehr in der Öffentlichkeit zu äußern.
Zu guter Letzt stellt sich auch die Frage, ob die neue Reglung, dass nur noch jene Film gezeigt werden dürfen, die erst in französischen Kinos laufen, bevor sie dann nach drei Jahren beispielsweise auf Video-on-Demand-Plattformen angeboten werden, einen Schachzug für oder gegen die Filmemacher selbst bedeutet. Ob Netflix unbedingt das Wohl Letzterer im Sinn hatte, als es beschloss, dem Festival fernzubleiben, muss vorerst auch unbeantwortet im Raum stehen bleiben.
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