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Platte der WocheErweiterte Farbpalette: „Free LSD“ von OFF!

Platte der Woche / Erweiterte Farbpalette: „Free LSD“ von OFF!
 Foto: Jeff Forney

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Sich als Musikexperte zu bezeichnen, birgt immer eine große Gefahr. Wer weiß und kennt schon alles? Selbst wer ein Fachgebiet hat, sprich sich intensiv mit einem bestimmten Genre befasst, wird dort immer wieder auf unbekannte tolle Musik stoßen

Musikliebe heißt, fortwährend dazuzulernen und Neues zu entdecken – sei es brandaktuell oder jahrealt, weil es seinerzeit überhört wurde. Punkrock zählt sicherlich nicht zur Expertise des Autors dieser Zeilen. Einige wichtige Bands und Platten sind natürlich geläufig, aber längst nicht alles. OFF! war auch nur vom Hörensagen bekannt, was sich flugs änderte, als deren neues Album „Free LSD“ in den digitalen Postkasten flatterte und das erste Mal gehört wurde. Was für eine furiose Platte!

Die Band OFF! (mit ! geschrieben und daher keinesfalls zu verwechseln mit dem Ausrufezeichen-losen 80er-Jahre-Electroprojekt von Sven Väth) fand Ende 2009 in Los Angeles zusammen. Das erste Line-up setzte sich zusammen aus Circle-Jerks-Sänger Keith Morris (Ex-Black-Flag), Gitarrist Dimitri Coats (Ex-Burning-Brides), Redd-Kross-Bassist Steven Shane McDonald und Mario Rubalcaba alias Ruby Mars, bekannt als Schlagzeuger von Rocket From The Crypt und Hot Snakes. Eine illustre Bande mit großer Vergangenheit.

Nach vier EPs, zusammengefasst auf der 2010er Compilation „First Four EPs“, erschien 2012 ihr Debütalbum „OFF!“ – 17 Songs in nicht mal 16 Minuten. Zack! Zwei Jahre später gab es auf „Wasted Years“ immerhin knapp 24 Minuten Musik zu hören. Wie beim Vorgänger hatten nur Morris und Coats zum Songwriting beigetragen. Nach längerer Funkstille gaben die zwei treibenden Kräfte im letzten Jahr bekannt, in Autry Fulbright II (Bass, früher bei And You Will Know Us By The Trail Of Dead) und dem ehemaligen Thundercat-Schlagzeuger Justin Brown neue Mitstreiter gefunden zu haben. OFF! steuerte im letzten Jahr für das Metallica-Tribute-Album „The Metallica Blacklist“ eine eigenwillige, wüste Punkrock-Version von „Holier Than Thou“ bei, schloss sich dem Label Fat Possum an und arbeitete an ihrem dritten Album „Free LSD“.

Die OFF!-Fans sind wahrscheinlich schnell darüber hinweg, dass sie acht Jahre auf dieses warten mussten, sobald der erste der 20 Songs läuft. Was haben diese für eine Kraft und Energie. „Free LSD“ ist ein Fest. Treibender, gewaltiger Punkrock mit einem gewissen Irrwitz in Form von Jazz-Fusion-Versatzstücken. Der Opener „Slice Up The Pie“ ist noch harmlos. Die Snare-Drum marschiert, der Bass wummert. Dann aber fliegt Coats in „Time Will Come“ über die Gitarrensaiten, und erstmals kommt Gast-Saxofonist Jon Wahl (Claw Hammer) zum Einsatz. Saxofon ist ein schwieriges Instrument; nicht jeder mag es, wenn es in John-Zorn-Manier im Freistil eingesetzt wird. Aber hier passt das – mit leichten Abstrichen bei den instrumentalen Zwischenstücken „F“, „L“, „S“ und „D“.

„War Above Los Angeles“ ist ein weiteres Brett: Tempowechsel, Härte, Melodie, Raffinesse und Avantgarde halten sich die Waage. Wie ein außer Kontrolle geratener ICE rast dieser Song ebenso über einen hinweg wie „Invisible Empire“. Was hat die vier nur geritten, dieses Feuerwerk anzuzünden, dem man sich kaum entziehen kann, sofern man ein Faible für intensive Gitarrenmusik hegt. Kein Song erreicht die Drei-Minuten-Marke, in jedem spuckt Morris wütend seine Texte ins Mikrofon. Es ist fantastisch.

Warum die Band anno 2022 so viel besser klingt, erklärt der Sänger in dem folgenden Statement: „Nachdem ich so lange Musik gemacht hatte, war es an der Zeit, eine Palette zu verwenden, die Limettengrün, Türkis und Magenta enthält, anstatt der typischen Farben und Schattierungen, die in all den anderen halsbrecherischen und Verfolgungsjagd-Szenarien vorkommen. Miles Davis mit Herbie Hancock und The Headhunters anstatt ‚Milo Goes To College‘.“ Übersetzt heißt das: Lieber sich austoben wie Hancock in den 70ern und 80ern mit seiner Begleitband Headhunters als den Erwartungen zu entsprechen und etwas ähnliches abzuliefern wie die Descendents auf ihrem Debütalbum „Milo Goes To College“. Wenn die Jazz-Ikonen Davis und Hancock alte Punkrocker – Morris ist mittlerweile 67 Jahre alt – zu solch grandioser Musik antreiben, könnte man fast zum Jazz-Fan mutieren. Fast!

Die Platte erscheint am 30. September. Anhören kann man sich jetzt bereits „War Above Los Angeles“ und „Kill to Be Heard“.

Anspieltipps: Time Will Come, Invisible Empire, Black Widow Group, Peace Or Conquest