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„Small, Slow But Steady“ von Shô MiyakeDie introvertierte japanische Neffin von Rocky Balboa

„Small, Slow But Steady“ von Shô Miyake / Die introvertierte japanische Neffin von Rocky Balboa
Yukino Kishii in der Rolle der Boxerin Keiko Foto: Keiko, Me Wo Sumasete Production Commitee & Comme des Cinémas

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„Small, Slow But Steady“. Klein, langsam, aber beständig. Der Filmtitel dieses japanischen Boxdramas ist Programm. Gleichzeitig aber auch eine klar angesagte Umkehrung dieses Programms.

Mit Programm ist die über Jahrzehnte eingetrichterte Erwartungshaltung gemeint, die wie ein cinephiler Trigger beim Wort „Boxdrama“ eintritt. „Rocky“ (John G. Avildsen, 1976) bleibt in dieser Hinsicht auch nach fast 40 Jahren Blaupause und ultimativer Referenzpunkt zugleich. Das Boxen im Kino ist jedoch viel älter, begleitet es eigentlich schon Zeit ihres Aufkommens.

Scheinbar klein, langsam, aber beständig soll die Hauptfigur in Regisseur Shô Miyakes Film sein. Keiko ist tatsächlich nicht die körperlich allergrößte und für die anderen charakterlichen Merkmale müssen die ZuschauerInnen ihre Trainer beim Wort nehmen. Wir treffen sie alle im Pandemiejahr 2020 in Tokio an. Die junge Frau ist seit kurzem Profiboxerin und hat schon ihren ersten professionellen Kampf für sich entschieden. Und das trotz eines Charakterzuges, der nicht im Filmtitel aufgelistet wird. Keiko wurde mit Schallempfindungsschwerhörigkeit geboren und hat seither kein Gehör mehr. Eine echte Herausforderung in einem Sport wie dem Boxen – wir erinnern uns an unsere Boxfilm-Konditionierung: Öfters schreien zum Beispiel Trainer ihre kämpfende Schützlinge im Ring an und stehen mit Rat zur Seite, während sie ihnen Wasser ins Gesicht spritzen oder Platzwunden an der Stirn behandeln.

„Keiko, me wo sumasete“, auf Englisch „Small, Slow But Steady“ ist keine Underdog-Geschichte, in der es für die Hauptfigur gilt, Hindernisse zu überwinden, um am Ende mit angeschwollen klimaktischer Musik und trotz aller Steine, die sich ihr in den Weg gestellt haben, einen finalen Kampf zu meistern. Nein. Keiko erfährt, dass der Vereinsvorsitzende ihres Klubs mit gesundheitlichen Problemen geplagt ist und deswegen sein Studio, Keikos zweites Zuhause, zu schließen gedenkt. Die Boxerin wird plötzlich mit einem inneren Kampf konfrontiert, der schwerer zu sein scheint als alle anderen Kämpfe. Wieso kämpft sie und ist ihr Wille stark genug, weiterzukämpfen?

Wie Ozu

Der Filmtitel und seine Adjektive sind nicht nur auf die Hauptfigur, sondern auch auf den Film applizierbar. „Small, Slow But Steady“ ist tatsächlich ein kleiner und langsamer Film. Was jedoch nicht im Geringsten gegen ihn spricht. Das Drama im Boxdrama ist in diesem japanischen Fall ein gedämpft gedeckeltes, aufbrausend spannend. Sogar auf die Musik, die sonst einen solchen Film begleitet – Bill Contis Rocky-Musik hat sich längst verselbstständigt und gehört heute bei jedem Trainingsvideo zum musikalischen Arsenal –, wurde komplett verzichtet.

Regisseur Shô Miyake und Ko-Drehbuchautor Masaaki Sakai inspirierten sich am autobiografischen Schreiben der Boxerin Keiko Ogasawara – der Film ist somit auch ein Biopic –, aber eigentlich interessierte die beiden einerseits eine Milieustudie, andererseits eine durch und durch introvertierte Charakterstudie. Wie macht man psychologische Porträts von Menschen und gesellschaftlichen Kontexten, ohne dabei in verbalen Wasserfällen zu verfallen? Kommunikation erfährt Keiko durch Zeichensprache – in zwei Dialogszenen mit ihrem Bruder wird Zeichensprache wie in Stummfilmen mit Zwischentiteln übersetzt –, aber auch mit Lippenlesen oder einfach mit Kopf und Fuß.

Kommunikation wird für Keiko jedoch erschwert, sobald ihr Menschen mit Covid-Masken gegenüberstehen und versuchen, mit ihr zu reden. Die junge Frau wird mit Einsamkeit in allen ihren Facetten konfrontiert und sie versucht, möglichst unbeschadet mit ihr umzugehen. Sie anzukämpfen, ist ein regelrechter Kampf, der ihr Angst macht. Ich mag es nicht, verletzt zu werden, gesteht sie ihrem Trainer, während sie beim Training immer wieder Schritte nach hinten macht. „Small, Slow But Steady“ interessiert sich aber auch für die Menschen um Keiko, die allesamt versuchen, den Boxkampf des Lebens bis ans Ende durchzuhalten, ohne K.o.

Geschlagen zu werden. Eingepackt in warme und wunderschönen 16-mm-Bildeinstellungen ist Miyakes Film in etwa der Film, den man sich vorstellen könnte – und der Vergleich ist an dieser Stelle nicht zum ersten Mal gemacht worden –, wenn Yasujirō Ozu einen Boxfilm gemacht hätte. Durch und durch emphatisch, mit einem ruhigen Auge fürs Detail und einer Schauspielerin im Mittelpunkt, Yukino Kishii, die Ozus Muse Setsuko Hara in nichts nachsteht. Wenn man Verwandtschaften nur nach Blicken einordnen könnte, dann wären diese zwei Frauen seelisch miteinander verbunden.