Dienstag16. Dezember 2025

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Auf der Suche nach der mexikanischen Identität

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Da der Mexikaner weder Indianer noch Spanier sein möchte, „zerreißt er das Band der Vergangenheit, verleugnet er seinen Ursprung und spinnt sich – einsam – in das Leben ein, das als Geschehen immer Geschichte ist“, schrieb Octavio Paz in seinem „Labyrinth der Einsamkeit“ 1950./Janina Strötgen

Dass die Suche nach einer eigenen mexikanischen Identität auch heute zentrales Thema der Schriftsteller ist, haben zahlreiche Konferenzen und Rundtischgespräche mit etwa 40 Schriftstellern aus Mexiko auf dem „Salon du livre“ in Paris gezeigt.
Gezeigt haben sie aber auch, dass die Suchenden sich von einer einzigen, definierbaren Identität verabschiedet haben und ihre Vergangenheit – ihre indianischen Wurzeln, die spanische Kolonisation, die mexikanische Revolution und die politischen Ereignisse von den Studentenrevolten in den sechziger Jahren bis heute – nicht nur akzeptiert, sondern auch verinnerlicht haben. Sie setzen sich mit der Komplexität ihres Landes auseinander und lassen dabei auch verstärkt historische Traumata sowie aktuelle Probleme zu. „Ich habe nichts gegen minimalistische Literatur, aber die Vereinfachung funktioniert in einem Land wie Mexiko nicht“, sagt Paco Ignacio Taibo II., der in seinen Kriminalromanen den Ermittler Héctor Belascoarán Shayne ständig auf verschiedene Schichten der mexikanischen Gesellschaft treffen lässt. So unterschiedlich seine Geschichten auch sein mögen, verbunden sind sie durch ein dominierendes Thema: die Gewalt. Gewalt durch Armut, Gewalt durch Korruption, Gewalt durch Geschlechterkampf – Paco Ignacio Taibo II. macht in seinen Krimis vor nichts halt. Obwohl sein Ermittler auf den letzen Seiten der Bücher das Verbrechen immer aufklärt, hinterlässt jedes seiner Werke einen bitteren Nachgeschmack. „Hollywood-Happy-Ends sind nicht mein Ding“, so Paco Ignacio Taibo II.

UnbequemeSchriftsteller

Drogenhandel und Immigrationsprobleme im Norden, Unterdrückung der indigenen Bevölkerung in Chiapas und eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich in Mexico-City sind Probleme Mexikos, die in der Literatur ihr Echo erfahren.
Unbequem möchte sie sein, die junge Generation mexikanischer Schriftsteller. Nicht umsonst taucht dieses Adjektiv immer wieder in ihren Buchtiteln auf: in dem Krimi „Muertos incómodos“ (unbequeme Tote), das Paco Ignacio Taibo II. gemeinsam mit dem Zapatistenführer Subcomandante Marcos verfasst hat und für das er mit dem „Prix Grand Public du Salon du livre“ ausgezeichnet wurde. Oder auch in „Pétalos y otras historias incómodas“ („Blütenblätter und andere unbequeme Geschichten“) der 1973 geborenen Schriftstellerin Guadalupe Nettel.
Nettels Literatur zwingt ihre Leser dazu, „sich im Spiegel anzuschauen“, wie die Schriftstellerin selbst sagt. Denn „in dem, was uns an uns selbst erschreckt, befinden sich die Schlüssel unserer Existenz, weil das, was uns erschreckt, uns auch einzigartig macht“, erklärt die Autorin bei einem Rundtischgespräch über das zwitterhafte Verhältnis zur Stadt Mexiko. Nach mehreren Jahren in Frankreich hat Nettel nun selbst „den Schritt gewagt“ und ist in ihre Geburtstadt Mexico-City zurückgekehrt. Die Hassliebe, die sie mit dieser Stadt verbindet, ist zentrales Thema in ihrem Werk. Immer wieder zeigt sie genau das, wovor man lieber die Augen verschließt: die Bettler in den Straßen, das Leben der Obdachlosen in Metrostationen und die Kluft zwischen den sozialen Schichten.

20% mehr Besucher als letztes Jahr

Dass die Literatur der zeitgenössischen mexikanischen Schriftsteller nicht nur Leser im eigenen Land fesselt, hat das Interesse auf dem Salon du livre gezeigt: 20.000 Bücher wurden in den sechs Tagen auf dem mexikanischen Pavillon verkauft. „Mit dem Ansturm auf die Konferenz mit Carlos Fuentes hätten wir den ’Palais des sports‘ füllen können“, äußerte sich ein Verantwortlicher des Syndicat national du livre, Organisator des Salons, am Mittwochabend zufrieden. „Der Salon hatte zwanzig Prozent mehr Besucher als im letzen Jahr. Das Buch lässt sich von wirtschaftlichen Problemen nicht verdrängen.“ Es lebe die Literatur!



3 FRAGEN AN Jean-Claude Carrière


Die mexikanische Realität ist surreal

Jean-Claude Carrière zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern und Drehbuchautoren Frankreichs. Er hat unter anderem mit Luis Buñuel („Schöne des Tages“), Jean-Luc Godard („Rette sich wer kann“) oder Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel“) zusammengearbeitet. Anfang des Jahres ist bei Plon sein Buch „Dictionnaire amoureux du Mexique“ herausgekommen. Auf dem Salon du livre sprach er über seine Faszination für Mexiko.

„T“: Was fasziniert Sie an Mexiko?
Jean-Claude Carrière: „Ebenso wie Indien fasziniert mich Mexiko vor allem deshalb, weil dort Gegensätze nebeneinander existieren können, ohne sich aneinander zu stören. Mexiko ist auf der ständigen Suche nach sich selbst. Deshalb gibt es nicht ein Mexiko, sondern viele. Die mexikanische Realität ist surreal. Ihre unerschöpfliche Vielschichtigkeit macht für mich den Reiz Mexikos aus.“
„T“: In Europa haben wir jedoch häufig ein ziemlich einseitiges Bild von Mexiko. Woran liegt das?
J.C.C.: „Es ist leicht, Vorurteile auszuschlachten. Und leider passiert das oft, vor allem in der internationalen Presse. Es ist leichter, sich auf ein fertiges Bild zu stützen, als sich mit der Vielschichtigkeit eines Landes auseinanderzusetzen. Doch jeder, der in Mexiko ankommt und sich mit seinem fertigen Bild im Kopf ins Taxi setzt, wird überrascht sein: Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel wird er nämlich genau das Gegenteil vom Erwarteten erleben, ganz egal, was er erwartet.“

„T“: Ist Ihr Buch „Dictionnaire amoureux du Mexique“ extra für den Salon du livre herausgekommen?
J.C.C.: „Nein, das war ein schöner Zufall. Die Veröffentlichung ist seit zwei Jahren geplant. Dass Mexiko diesjähriger Ehrengast des Salon du livre sein würde, habe ich erst im Oktober letzen Jahres erfahren.“