In demonstrativer Eintracht begehen ÖVP und FPÖ heute ihren ersten Koalitionsjahrestag. Umso gespaltener ist das Publikum im Urteil über die nicht nur hinsichtlich der Sensibilität für Antisemitismus ambivalente Darbietung.
Von unserem Korrespondenten Manfred Maurer, Wien
„Insgesamt zeigt die FPÖ weiterhin eine starke Nähe zur NS-Ideologie.“ Willi Mernyi, Vorsitzender des Mauthausen-Komitees Österreich (MKÖ), fällt ein hartes Urteil über die mit der ÖVP regierenden Rechtspopulisten. Er begründet es mit einer langen Liste sogenannter „Einzelfälle“: Vor zwei Wochen verbreitete ein niederösterreichischer FPÖ-Gemeinderat auf Facebook die absurde These, wonach der Begriff Nazi „oft fälschlicherweise im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus in der abwertenden Form gebraucht“ werde. Tatsächlich beziehe sich der Begriff auf den Herkunftsort der Familie Jesu, nämlich Nazareth …
Drei Wochen davor hatte die FPÖ-Zentrale einen Zeichentrickfilm mit einer rassistischen Geschichte über die beiden Sozialbetrüger Ali und Mustafa erst nach Protesten zurückgezogen. Und ausgerechnet am 12. November, dem 100. Jahrestag der Gründung der Ersten Republik, pilgerten Wiener FPÖ-Abgeordnete zu einer Gedenkfeier ans Grab des NS-Piloten und Hitler-Fans Walter Nowotny.
Jüdische Dankschreiben
Obwohl FPÖ-Chef Vizekanzler Heinz Christian Strache stets betont, Nazis und Antisemitismus hätten in seiner Partei nichts verloren, poppen dort in unschöner Regelmäßigkeit braune Beulen auf. „Der Antisemitismus in dieser Partei tritt trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse wieder wesentlich offener zutage“, befindet MKÖ-Chef Mernyi.
Dem hält Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Dankschreiben jüdischer Vertreter und israelischer Politiker entgegen, die in höchsten Tönen den Einsatz seiner Regierung gegen Antisemitismus würdigen. Erst am Sonntag twitterte Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu: „Ich gratuliere BK @sebastiankurz. Unter seiner Führung hat die #EU eine einheitliche Def(inition) angenommen, wonach #Antizionismus Ausdruck von #Antisemitismus ist.“
Der Direktor der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Avner Shalev, dankte Kurz für die Erklärung des jüngsten EU-Gipfels gegen Antisemitismus und würdigte diese als „bedeutende Errungenschaft“.
Israel hält an FPÖ-Boykott fest
Doch obwohl die EU-Innenminister diese Erklärung unter dem Vorsitz des österreichischen FPÖ-Ministers Herbert Kickl vorbereitet hatten und Kurz sich wortreich für einen Israel-freundlicheren EU-Kurs starkmacht, halten Israel und die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) an ihrem Boykott der FPÖ-Minister fest. Man traut dem Frieden eben nicht, solange FPÖler unisono mit Ungarns Viktor Orban über George Soros herziehen, während der Kanzler den Gottseibeiuns der Rechtsextremen demonstrativ empfängt. Angesichts einer immer länger werdenden Liste der „Einzelfälle“ wirken betont freundschaftliche Signale an Juden und Israel wie eine Show zur Behübschung der braunen Realität in blauen Chatrooms.
Aber in puncto Politshow kann keiner Kurz was vormachen. Sein Vorgänger Christian Kern meinte, 95 Prozent der Politik seien Inszenierung. Der Sozialdemokrat musste vor einem Jahr nicht zuletzt den Hut nehmen, weil er dem ÖVP-Chef inszenierungsmäßig nicht das Wasser reichen konnte. Dass die türkis-blaue Bundesregierung sich auch ein Jahr nach dem Start bester Umfragewerte erfreut und Kurz selbst das vom OGM-Institut erhobene Vertrauensranking mit großem Abstand vor Bundespräsident Alexander van der Bellen anführt, hat viel mit perfekter Show zu tun.
Spiel mit dem Migrationsthema
Darin hat nicht nur das permanente Spiel mit dem Migrationsthema einen festen Platz, indem Österreichs Probleme allesamt als irgendwie mit den Ausländern zusammenhängend dargestellt werden. Mindestens ebenso bewirkt die inszenierte Harmonie die überwiegend positive Wahrnehmung dieser Regierung.
Nach einer gefühlten Ewigkeit der Großen Koalition registriert das Publikum mit wohlwollendem Erstaunen, wie ÖVP und FPÖ das von ÖVP und SPÖ stets gebrochene Versprechen einhalten: Es wird wirklich nicht gestritten. Statt kleingeistigem Hickhack früherer Regierungen bieten Kurz und Strache eine Ziemlich-beste-Freunde-Vorstellung.
„Es gibt keinen Streit, keine gegenseitige Blockade und daher gibt es in der Wahrnehmung keinen Stillstand, sondern genau das Gegenteil“, konstatiert OGM-Chef Wolfgang Bachmayer. Das heißt nicht, dass es keine Differenzen gibt. Aber sie werden möglichst unter der Tuchent gehalten.
Das Geheimnis dafür lautet strikte Message Control und klare Hierarchien: Kein Regierungsmitglied setzt Botschaften ohne Sanktus des Kanzleramtes ab. Der 32-jährige Kurz ist uneingeschränkt als Leithammel akzeptiert, auch vom 17 Jahre älteren FPÖ-Vizekanzler Strache.
Sebastian Kurz, der Schweigekanzler
Für Ruhe im Team sorgt zudem, dass die ÖVP-Minister anders als früher nicht von Ländern oder Parteiorganisationen geschickt, sondern von Kurz persönlich erkoren wurden. Das schafft Loyalitäten, die noch kein ÖVP-Chef genossen hat.
„Ordnung statt Chaos“ ist Kurz’ nicht nur für die Migrationspolitik geltende Maxime. Das kommt bei vielen an, stößt aber auch viele ab, wie vorigen Samstag bei einer Protestkundgebung in Wien wieder zu hören und zu sehen war. Die einen lieben Kurz, die anderen hassen ihn. Dazwischen gibt es nicht viel.
Die innerkoalitionäre Loyalität ist durch gegenseitige thematische Zugeständnisse erkauft: Die ÖVP darf den unternehmerfreundlichen 12-Stunden-Tag einführen, dafür die FPÖ das sie störende Rauchverbot in der Gastronomie abschaffen. Die FPÖ schluckt das früher heftigst bekämpfte Freihandelsabkommen CETA, dafür darf sie ihr Klientel mit dem Kippen das UNO-Migrationspaktes beglücken – selbst um den Preis eines dunklen Schattens über Österreichs EU-Vorsitz.
Oft ist der Preis des Koalitionsfriedens auch Schweigen: Nur wenn es sich überhaupt nicht mehr vermeiden lässt, distanziert sich der Kanzler von rechtsextremen Ausrutschern des Koalitionspartners. Deshalb hat eine Fachjury der Uni Graz den Begriff „Schweigekanzler“ zum österreichischen Wort des Jahres gekürt.
Koalition im Konjunkturglück
Nicht geschwiegen wird, wenn es ums Eigenmarketing geht. Auch wenn den Journalisten oft nur Überschriften geboten werden, inszeniert die Regierung die Präsentation stets als große Sache und zieht sie schnell durch. Das geht zwar zulasten der parlamentarischen Kontrolle, aber das Volk hat das Gefühl, dass gehandelt statt nur geredet wird.
Tatsächlich bringt die Koalition Dinge auf den Weg, die seit Jahren diskutiert, aber nie angegangen wurden. So wurden gerade die 29 Sozialversicherungsträger auf fünf zusammengelegt. Zwar kann die Regierung nicht sagen, woher die dadurch angeblich eingesparte Milliarde Euro genau kommen soll, aber das wird man ohnehin erst in ein paar Jahren sehen.
Als historisch gefeiert wird die Budgetsanierung. Erstmals seit 65 Jahren soll es 2019 statt neuer Schulden einen Budgetüberschuss geben, was Kritiker weniger der Politik als vielmehr der guten Konjunktur und sprudelnden Steuereinnahmen zugute schreiben.
Mit dem Geldsegen könnte es freilich bald vorbei sein, wenn sich die Wirtschaft wie erwartet eintrübt oder Brexit und Handelskriege gar in eine Rezession führen. Dann wird sich zeigen, ob der türkis-blaue Honeymoon von Dauer und Österreich wirklich noch ist, was Sebastian Kurz anlässlich seines ersten Kanzlerjubiläums behauptet: eine Insel der Seligen.
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