Die Zahlen des „Plan national de réforme“ (PNR) von Ende April bekommen plötzlich Gesichter. Traurige Gesichter. Die alarmierenden Statistiken mit sich weiter verschlechternder Tendenz hätten bei den politischen Verantwortlichen einen Schrei des Entsetzens auslösen müssen. Eigentlich. Statt das Thema zur Chefsache zu erklären und der steigenden Armut den Kampf anzusagen, wurde der PNR jedoch wie jedes Jahr abgehandelt. Als Pflichtübung.
Jeder fünfte Einwohner ist arm
Dabei muss man kein Mathematiker sein, um die Tragweite der Zahlen zu erkennen: Laut PNR leben inzwischen 21,5 Prozent der Gesamtbevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Anders ausgedrückt: Etwa jeder fünfte Einwohner Luxemburgs ist arm.
Bei den Alleinerziehern beträgt das Armutsrisiko sogar mehr als 40 Prozent. Mitschuld daran hat zweifelsohne der Umstand, dass die Regierung die Steuerklasse 2 für jedermann zwar angekündigt, das Versprechen aber nicht eingelöst hat. Mit dem Ergebnis, dass am Tarif der Steuerklasse 1a rein gar nichts geändert wurde.
Armut ist dabei nicht nur eine Frage von Arbeitslosigkeit, wie das PNR-Dokument ebenfalls ausweist: Das Armutsrisiko bei den über 18-jährigen Berufstätigen liegt bei 13,5 Prozent.
Die vorgenannten Zahlen stehen für das Versagen der Verantwortlichen. Die Lage ist ernst und so nicht annehmbar. Und steht in krassem Widerspruch zum Prinzip, dass sich Arbeiten lohnen muss: Jeder soll von seinem Gehalt oder Lohn angemessen leben können!
Armut ist mehr als nur eine leere Brieftasche
Wer von Armut spricht, denkt in der Regel an Geld. Und, ja, Armut ist in erster Linie auch auf in unzureichendem Maße verfügbare finanzielle Mittel zurückzuführen, aber Armut ist mehr als nur eine leere Brieftasche.
Deutlich wird das, wenn man in Kinderaugen blickt. Beispielsweise in die Augen jener Mädchen und Jungen, denen dieses Jahr ein Urlaub aufgrund der prekären finanziellen Lage ihrer Eltern nicht vergönnt ist. Diese Familien sind finanziell arm, aber, noch schlimmer, sie gelten auch als sozial arm. Weil sie, bedingt durch ihre Situation, sozial ausgeschlossen sind und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Erschwerend hinzu kommt, dass dieser ganze Druck, der auf den Eltern lastet, auf die Kinder übertragen wird. Mit der Konsequenz, dass er sich negativ auf ihre Entwicklung ausübt. Beim eingangs erwähnten Caritas-Forum war wohl nicht umsonst ein eigenständiger Workshop diesem ernsten Thema gewidmet.
Die Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung der Kinder gipfeln in vom Start weg schlechteren Chancen in der Schule, wie der Nationale Bildungsbericht* bereits 2021 feststellte: „Der sozioökonomische und der sprachliche Hintergrund der Schülerinnen und Schüler hat einen entscheidenden Einfluss auf ihre Schullaufbahn. […] Die vorliegenden Befunde zeigen, dass das luxemburgische Bildungssystem der sozialen Diversität des Landes nicht gerecht wird. […] Der vorliegende Beitrag bestätigt, dass das nationale Bildungssystem ein generelles Performanz- und Egalitätsproblem hat. […] Schullaufbahnen in Luxemburg sind sehr früh (vor)bestimmt […].“
Der Elefant im Raum
Die schulsystemische Benachteiligung von Kindern aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen gilt als Elefant im Raum. Es ist die traurige Realität, die die Mehrheitspolitiker nur allzu ungern ansprechen. Weil die Lösungsfindung nicht mit dem üblichen oberflächlichen Federstrich erledigt ist. Dabei ist die Lage nicht aussichtslos, wenn man die richtigen Hebel betätigt – auf finanzpolitischer wie auf bildungspolitischer Ebene.
Anpassung der Steuertabelle an die Inflation
Durch die seit Jahren immer wieder geforderte – etappenweise, aber vollständige – Anpassung der Steuertabelle an die Inflation und die damit einhergehende Ausgleichung des Kaufkraftverlusts könnte der betroffenen Bevölkerungsgruppe substanziell unter die Arme gegriffen werden. Kinderreiche Familien könnten zudem mit einer entsprechenden Zulage unterstützt werden – wissend, dass die Kosten ab einem dritten Kind exponentiell steigen, u.a. durch den Bedarf eines entsprechenden Autos mit Platz für mindestens drei Kindersitze nebeneinander und Isofix-Punkten an allen Rücksitzen.
Handlungsspielraum besteht auch auf der bildungspolitischen Schiene. Im Interesse von Kindern aus sozial schwächer gestellten Familien sollen konkrete Maßnahmen ausgearbeitet werden, allen voran die Einführung einer echten Hausaufgaben-Hilfe statt der zur vergangenen Rentrée vom Bildungsminister eingeführten Hausaufgaben-Aufsicht. Zudem sollen Grundschulen in sozial schwächeren Regionen oder Vierteln systematisch unterstützt werden, und ein Kompetenz-Screening soll helfen, etwaige Defizite bei Kindern frühzeitig ab dem Précoce bzw. Zyklus 1 zu erkennen. Eine weitere Maßnahme ist die Einführung von jeweils einem Lehrer und einem Erzieher pro Klasse im Zyklus 1 (wie im Précoce). Zudem soll der Sprachenunterricht reformiert werden. Damit die Sprachenvielfalt Luxemburgs für bestimmte Schülergruppen kein Hindernis mehr darstellt.
Es ist dies nur eine Auswahl von Maßnahmen zur Gewährleistung gleichwertiger Startchancen für alle Kinder ab dem Moment ihrer Einschulung, unabhängig von ihrer Herkunft. Sie verdeutlicht aber eindrücklich, dass es eine Vielzahl von Hebeln gibt, die betätigt werden könnten, wenn denn auf Regierungsseite ein echter Wille bestehen würde, die Auswirkungen sozioökonomischer Unterschiede auf die schulischen Chancen der Kinder einzudämmen.
Eins steht fest: Dem Problem der sozialen Ungleichheiten und den daraus resultierenden schlechteren Startchancen für Kinder einer ganzen Bevölkerungsgruppe im öffentlichen Schulsystem muss endlich auf den Grund gegangen werden. Der Elefant im Raum muss endlich sichtbar gemacht werden. Es ist Zeit zum Handeln. Auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
* Nationaler Bildungsbericht Luxemburg 2021, S. 54.
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