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„Wir sehen uns am 1. Juli wieder“ – CSU und CDU verschieben Unionsstreit

„Wir sehen uns am 1. Juli wieder“ – CSU und CDU verschieben Unionsstreit

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Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. So sieht es wohl die CSU. Die bayrischen Konservativen haben am Montag nach Beratungen der großen CDU zwei Wochen Zeit gegeben, um eine europäische Lösung im Flüchtlingsstreit zu finden. CSU-Innenminister Seehofer droht weiter mit einem Alleingang, Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer Richtlinienkompetenz.

Von unseren Korrespondenten Werner Kolhoff und Hagen Strauß, Berlin

Selbst konkurrierende Parteien versuchen in Berlin immer, ihre Pressekonferenztermine miteinander abzustimmen. Hübsch nacheinander, damit alle ins Fernsehen kommen. CDU und CSU können sich an diesem Montag jedoch nicht einmal darauf einigen. Fast zeitgleich treten Angela Merkel in Berlin und Horst Seehofer in München vor die Kameras. Man gönnt sich gegenseitig nichts mehr. Das Ergebnis dieses dramatischen Montags: Scheidung zwar aufgeschoben, Versöhnung aber nicht in Sicht.

Seehofer wirkt gut gelaunt – und sarkastisch

Horst Seehofer wirkt einigermaßen gut gelaunt, als er nach der CSU-Vorstandssitzung die Fragen der Journalisten beantwortet. Von seinem 63 Punkte umfassenden «Masterplan Migration» gebe es jetzt immerhin eine Einigung auf 62-einhalb, flachst er. «Das ist doch ein Fortschritt.» Der offene halbe Punkt ist die Zurückweisung von Flüchtlingen, die schon woanders registriert sind, an der deutschen Grenze.

Seehofer wollte das sofort in Kraft setzen, «unverzüglich» stand im ursprünglichen Beschlussentwurf der CSU. Daraus wird nun, dass Angela Merkel noch einmal zwei Wochen Zeit bekommt, um eine europäische Lösung zu finden. So wie sie gefordert hat. «Wir wünschen der Kanzlerin dabei viel Erfolg», sagt Seehofer noch. Es klingt sarkastisch.

Jetzt stellt sich die berühmte «Wenn, dann»-Frage. Was passiert, wenn Merkel keinen Erfolg bei ihren Bemühungen hat? Sie beantworte «Wenn, dann-Fragen» grundsätzlich nicht, erklärt die CDU-Chefin dazu in Berlin. Und ergänzt: «Es gibt keinen Automatismus.» Nach dem EU-Gipfel Ende nächster Woche werde sie wieder mit ihren CDU-Gremien beraten – und danach mit der Schwesterpartei «über das, was wir dann tun». Hübsch nacheinander.

Merkel zu den Journalisten: «Wir sehen uns am 1. Juli spätestens wieder.» Anders als Seehofer ist der Kanzlerin bei ihrer Pressekonferenz nicht zum Scherzen zumute. Sie vermeidet jedes persönliche Wort. Eine prominenter Unionsmann verrät am Rande, «dass vieles nicht so sehr auf einen Dissens in der Sache beruht» – soll heißen, das Verhältnis Merkel/Seehofer ist Teil des Problems; es gilt seit Langem als zerrüttet.

Dieselbe Frage, zwei verschiedene Antworten

«Wenn, dann» – Horst Seehofer reagiert auf die gleiche Frage in München zur gleichen Zeit ganz anders. Wenn es keine europäische Einigung gebe, «dann müssen wir das auch vollziehen», sagt er schnörkellos. Er werde nun nach Berlin zurückfahren und sofort mit den Vorbereitungen für die Umsetzung der Maßnahme beginnen, betont er.

Schließlich wolle er keine Zeit verlieren. Sicher werde er am Ende noch «ein, zwei Tage» zugestehen, um mit der Kanzlerin nach der Rückkehr vom EU-Gipfel zu reden. «Das ist eine Frage des Anstands.» Seehofer lässt an seiner Entschlossenheit keinen Zweifel. In einem Gastbeitrag, der gestern in einer großen Tageszeitung erschien, bemüht der Innenminister sogar seinen Amtseid, der ihn zu dieser Maßnahme verpflichte.

«Zweimal Ja», sagt unterdessen Merkel, als jemand wissen will, ob eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der CSU in der Regierung weiter möglich sei und ob sie noch die volle Richtlinienkompetenz habe. Auf Nachfrage betont sie: Setze Seehofer seine Maßnahme in Kraft, «dann würde ich sagen, ist das eine Frage der Richtlinienkompetenz». Allenthalben wird das in Berlin als Drohung der Kanzlerin verstanden. Theoretisch könnte sie Seehofer entlassen, wenn er eigenmächtig handelt. Dann wäre der Bruch perfekt und die Koalition am Ende.

Fast unter geht an diesem Tag, dass es noch 62 andere Punkte in Seehofers Masterplan gibt. Den freilich kennt weiterhin außer Merkel und Seehofer niemand in Berlin oder München, auch der Koalitionspartner SPD nicht. Innenminister und Kanzler referieren immer nur mündlich daraus. «Ich finde das sehr bedauerlich», kritisiert Thüringens CDU-Chef Mike Mohring – und er ist nicht der Einzige. Der Unmut darüber ist groß. Bei Seehofers Pressekonferenz immerhin lässt sich entnehmen, dass die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen ein Element sein wird. Außerdem soll die Schaffung von Auffangzentren in Afrika zu den Maßnahmen gehören. Seehofer beansprucht damit, das ganz Asylthema «endlich zu ordnen».

Merkel sieht sich «angespornt»

Einigkeit besteht immerhin zwischen Merkel und Seehofer darüber, dass Flüchtlinge, die schon einmal aus Deutschland abgeschoben wurden, nicht erneut wieder einreisen und einen zweiten oder gar dritten Antrag stellen dürfen. Dass das bisher möglich war, hat Seehofer, wie er sagt, regelrecht fassungslos gemacht.

Das Beispiel zeige: «Wir haben das ganze Thema Migration noch nicht wirklich im Griff.» Aber den unionsinternen Streit? Am Tag der Krisensitzung wird eine neue Umfrage veröffentlicht. Im Vergleich zur Vorwoche haben CDU und CSU demnach vier Prozentpunkte verloren und liegen gemeinsam nur noch bei 30 Prozent – ihrem bislang niedrigsten Wert seit der Bundestagswahl im September (33 Prozent). Merkel sagt: «Ich sehe mich angespornt.» Seehofer sich allerdings auch.

Auch Trump mischt aus der Ferne mit

Selbst Donald Trump lässt der Streit zwischen CDU und CSU nicht kalt. Gestern twitterte der US-Präsident in triumphierendem Unterton, dass sich nun zeige, welch ein großer Fehler es gewesen sei, all die Flüchtlinge ins Land zu lassen. «Die Menschen in Deutschland wenden sich schon gegen ihre Führung», das Thema erschüttere die «schwächelnde Koalition» in Berlin, schrieb Trump. Auch sei die Kriminalität gestiegen. Eine ungewöhnliche Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Landes. Den Rat, einreisenden Flüchtlingen ihre Kinder wegzunehmen, wie er es derzeit an seiner Grenze zu Mexiko praktiziert, gab der Präsident allerdings nicht.

Die SPD, als Koalitionspartnerin von CDU/CSU besonders von dem Streit betroffen, hatte sich lange zurückgehalten. Gestern Nachmittag aber forderte Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles die Einberufung des Koalitionsausschusses noch vor dem EU-Gipfel in knapp zwei Wochen. In Anlehnung an Merkels Stellungnahme betonte sie ironisch, «dass eine Einigung zwischen CDU und CSU keinen Automatismus für eine Zustimmung der SPD bedeutet».

Europa- statt Parteifahne

Auf ihrer Parteizentrale hissten die Sozialdemokraten gestern demonstrativ das Europa-Emblem. Sonst weht dort die Parteifahne. «Es sind entscheidende Tage für Europa», erklärte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Das fand auch die Chefin der Linken, Katja Kipping. Für sie ist der Streit der Schwesterparteien ein Vorbote auf eine «Zeitenwende». Sollte sich der CSU-Kurs durchsetzen, drohe eine «Orbanisierung» der Flüchtlingspolitik, sagte sie. Und am Ende gehe es um die «Renationalisierung» Europas.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock nannte das Verhalten der CSU im Asylstreit unverantwortlich. «Dass die CSU jetzt das ganze Land in Geiselhaft für ihre eigenen Spielchen nehmen kann, das ist aus meiner Sicht brandgefährlich», kritisierte sie. Auch ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck warf der CSU «eine Verantwortungslosigkeit, wie wir sie so noch nicht erlebt haben», vor. In international schwieriger Situation werde die Regierung handlungsunfähig und die deutsche Politik «dramatisch geschwächt». Auch die FDP kritisierte die «Handlungsunfähigkeit» der Regierung. Generalsekretärin Nicola Beer erklärte, die Differenzen zwischen CDU und CSU seien bisher nur zugekleistert worden; schon in den Jamaika-Verhandlungen habe es keine Einigung gegeben. Es fehlten nach wie vor Ansätze für eine Regelung der Migration und ein modernes Einwanderungsrecht.

Zufrieden wirkte nur die AfD. Ihr Parteivize Georg Pazderski meinte, für die AfD sei der ganze Streit «ein Geschenk». Seehofer habe jetzt im Prinzip keine andere Wahl als «das, was er angekündigt hat, auch durchzusetzen». Seine Idee, Asylbewerber, die bereits in einem anderen EU-Land registriert seien, an den Grenzen abzuweisen, sei ein «Schritt in die richtige Richtung». Der zweite Schritt müsse sein, «alle diejenigen abzuschieben, die hier kein Bleiberecht haben».