Diese Zeiten machen mürbe. Mit dem Einfall der russischen Armee in die Ukraine haben wir die vermeintliche Gewissheit, in Europa würde kein Krieg mehr ausgefochten, gemeinsam zu Grabe getragen. Zuvor trugen wir schon andere Gewissheiten gemeinsam zu Grabe, denn entgegen unserer Annahme, dass Diversität nun einmal der Toleranz bedürfe und mit Toleranz der gesellschaftliche Zusammenhalt auf jeden Fall gesichert sei, zeigte uns die Pandemie, wie schnell tiefe Risse unsere Gesellschaft durchfahren können und wie heftig Freiheitsgrundrechte mit Vorstellungen von kollektiver Verantwortung und Solidarität kollidieren können. Von diesem Schock haben wir uns noch nicht erholt; und nun folgt gleich der nächste, mit all seinen noch nicht absehbaren ökonomischen und sozialen Folgen.
Die Untiefen des brodelnden Kessels, zu dem unser Planet geworden ist, speien nun auch ganz unvermutet Fragen aus, die nicht nur unsere reale Lebenswelt, sondern auch ihre geistige Kampfarena, die Literatur, betreffen. Vor allem einen Bereich der Literatur: die Lyrik. Innerhalb des Kunstkosmos stellt sie das dar, was die Felsenbirne im Vergleich zu anderen Vertretern unserer heimischen Flora ist: eine seltene Gattung, deren Schattendasein wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass sie im Kern als unverdaulich gilt. Dennoch machte die Lyrik in den letzten Wochen und Monaten erstaunlicherweise vermehrt von sich sprechen.
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