Es wird immer zumindest gewisse Spannungen geben, wenn eine aufstrebende Macht die etablierte Weltmacht herausfordert. China jedoch stellt sich den USA zu einem Zeitpunkt entgegen, zu dem sich deren relative Macht womöglich abschwächt und sie entschlossen sind, den eigenen strategischen Niedergang zu verhindern. Beide Seiten entwickeln daher eine zunehmende Paranoia bezüglich der Absichten des jeweils anderen. An die Stelle von gesundem Wettbewerb und Kooperation ist überwiegend Konfrontation getreten. Daran haben beide Seiten Mitschuld.
Unter Präsident Xi Jinping ist China autoritärer geworden und hat sich weiter in Richtung Staatskapitalismus entwickelt, statt an Deng Xiaopings Konzept der „Reform und Öffnung“ festzuhalten. Zudem hat Dengs Maxime „Verberge deine Stärke und übe dich in Geduld“ militärischer Durchsetzungsbereitschaft Platz gemacht. Die territorialen Streitigkeiten zwischen China und mehreren seiner asiatischen Nachbarn haben sich angesichts der zunehmend aggressiven Außenpolitik Chinas verschärft. China strebt danach, die Kontrolle über das Ost- und Südchinesische Meer zu erlangen, und legt zunehmende Ungeduld dabei an den Tag, unter Einsatz aller erforderlichen Mittel eine „Wiedervereinigung“ mit Taiwan herbeizuführen.
Xi wiederum hat die USA beschuldigt, selbst eine aggressive Strategie der „umfassenden Eindämmung, Einkreisung und Unterdrückung“ zu verfolgen. Andererseits fürchten viele in den USA, dass China die strategische Hegemonie der USA in Asien – einen entscheidenden Faktor beim relativen Frieden, Wohlstand und Fortschritt der Region seit dem Zweiten Weltkrieg – in Frage stellen könnte.
Die chinesische Führung ihrerseits fürchtet, dass sich die USA nicht länger an das „Ein-China-Prinzip“ gebunden fühlen, das den chinesisch-amerikanischen Beziehungen ein halbes Jahrhundert lang zugrunde lag. Nicht nur zeigen sich die USA inzwischen weniger „strategisch ambig“ in der Frage, ob sie Taiwan verteidigen würden; sie haben zudem chinesische Ängste vor einem Containment befeuert, indem sie ihre indopazifischen Bündnisse durch den Aukus-Pakt (zwischen Australien, Großbritannien und den USA), den Quad (zwischen Australien, Indien, Japan und den USA) und einen Asien-Schwenk der NATO verstärkt haben.
Übertriebene Befürchtungen
Ein erster Schritt zur Vermeidung eines Zusammenstoßes besteht darin, anzuerkennen, dass einige der vorherrschenden Befürchtungen übertrieben sind. So erinnert die Sorge der USA über Chinas wirtschaftlichen Aufstieg an ihre Haltung zum Aufstieg Deutschlands und Japan vor einigen Jahrzehnten. Schließlich hat China erhebliche wirtschaftliche Probleme, die sein Wachstumspotenzial auf bloße 3-4% pro Jahr verringern könnten. Das liegt deutlich unter der jährlichen Wachstumsrate von 10%, die China in den letzten Jahrzehnten erreicht hat. China hat eine alternde Bevölkerung und eine schwindelerregend hohe Jugendarbeitslosigkeit. Sein privater und sein öffentlicher Sektor sind beide hochverschuldet und aufgrund der Einschüchterung durch die herrschende Partei sinken die privaten Investitionen. Chinas Bekenntnis zum Staatskapitalismus behindert zudem den Anstieg seiner Gesamtfaktorproduktivität.
Zudem hat sich aufgrund der sich vertiefenden wirtschaftlichen Unsicherheit und des Fehlens eines umfassenden sozialen Netzes der chinesische Binnenkonsum abgeschwächt. Angesichts der inzwischen einsetzenden Deflation muss sich China über eine Japanifizierung sorgen: eine lange Phase ausbleibenden Wachstums. Wie so viele Schwellenmärkte könnte es letztlich in der „Falle des mittleren Einkommens“ stecken bleiben, statt den Status eines einkommensstarken Landes zu erreichen und zur weltgrößten Volkswirtschaft aufzusteigen.
Eigene Vorreiterrolle überschätzt
Während die USA Chinas potenziellen Aufstieg womöglich überschätzt haben, könnten sie ihre eigene Vorreiterrolle in vielen Zukunftsbranchen und -technologien ebenfalls überschätzt haben. Dies betrifft die KI, maschinelles Lernen, Halbleiter, Quantencomputer, Robotik und Automation sowie neue Energiequellen wie die Kernfusion. China hat im Rahmen seines Programms „Made in China 2025“ stark in einige dieser Bereiche investiert, doch sein Ziel, in zehn Zukunftsbranchen kurzfristig die Vorherrschaft zu erreichen, scheint inzwischen weit hergeholt.
Die amerikanischen Befürchtungen, dass China Asien dominieren könnte, sind ebenfalls überzogen. China ist von nahezu 20 Ländern umgeben, von denen viele strategische Rivalen oder „Freinde“ sind – die meisten der wenigen Verbündeten Chinas (wie Nordkorea) stellen eine Belastung seiner Ressourcen dar. Während Chinas Neue-Seidenstraßen-Initiative dem Land neue Freunde verschaffen und neue Abhängigkeiten schaffen sollte, begegnet sie vielen Herausforderungen, darunter gescheiterten, zu Schuldenausfällen führenden Großprojekten (weißen Elefanten). So sehr China den globalen Süden und seine internationalen „Swing States“ dominieren möchte: Viele Mittelmächte leisten dem Widerstand und arbeiten diesem Ehrgeiz entgegen.
Die USA haben zu Recht einige Sanktionen verhängt, um dem chinesischen Militär den Zugriff auf Schlüsseltechnologien zu erschweren und Chinas Streben nach Dominanz im Bereich der KI zu durchkreuzen. Doch von einer gewissen notwendigen technologischen Entkoppelung und Beschränkungen von Direktinvestitionen in China und den USA abgesehen, müssen die USA sorgfältig darauf achten, ihre Strategie auf eine des De-Riskings statt der Entkoppelung zu beschränken. Sie dürfen bei der Entscheidung, welche Sektoren sie in ihre Strategie des „kleinen Hofs mit hohem Zaun“ einbeziehen, nicht zu weit gehen. Die von Donald Trump gegen China verhängten Sanktionen schließen ein enormes Spektrum an Konsumgütern mit ein, und man sollte sie überwiegend auslaufen lassen.
Strategische Zurückhaltung
Was Taiwan angeht, sollten die USA und China versuchen, ein neuerliches Einverständnis herzustellen, um die derzeitige gefährliche Eskalation zu entschärfen. US-Präsident Joe Biden sollte das Ein-China-Prinzip eindeutig bekräftigen und seine öffentlichen Zusagen und Äußerungen wieder mit dem Grundsatz der „strategischen Ambiguität“ in Einklang bringen. Die USA sollten Taiwan die Waffen verkaufen, die es zu seiner Verteidigung braucht, aber nicht in einem Tempo oder Umfang, die China zum Einmarsch auf der Insel provozieren könnten, bevor deren „Stachelschwein-Verteidigung“ zu große Fortschritte macht. Die USA sollten zudem klarstellen, dass sie jeden Schritt Taiwans in Richtung formeller Unabhängigkeit ablehnen, und sie sollten Besuche mit hochrangigen taiwanesischen Regierungsvertretern vermeiden.
China seinerseits sollte die Provokationen seiner Luftwaffe und Marine in der Nähe Taiwans einstellen. Es sollte eindeutig erklären, dass eine letztliche Wiedervereinigung auf jeden Fall friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen wird, und es sollte Schritte ergreifen, um die Beziehungen über die Straße von Taiwan hinweg zu verbessern, und die Spannungen mit anderen Nachbarn in territorialen Streitfragen entschärfen.
China und die USA müssen beide eine Politik verfolgen, die die wirtschaftlichen und geopolitischen Spannungen abbaut, und eine gesunde Zusammenarbeit in globalen Fragen wie dem Klimawandel und der Regulierung der KI fördern. Falls sie es versäumen, ein neuerliches Einverständnis bei den Fragen herzustellen, die ihre gegenwärtige Konfrontation verschärfen, wird es irgendwann zum Knall kommen. Dies würde unweigerlich zu einer militärischen Konfrontation führen, die die Weltwirtschaft zerstören würde und sogar zu einem nicht-konventionellen (nuklearen) Konflikt eskalieren könnte. Diese hochriskante Lage verlangt strategische Zurückhaltung von beiden Seiten.
* Nouriel Roubini ist Professor emeritus für Volkswirtschaft an der Stern School of Business der New York University, Chefökonom des Atlas Capital Team und der Verfasser von „Megathreats: 10 Bedrohungen unserer Zukunft – und wie wir sie überleben“ (Ariston, 2022).
Aus dem Englischen von Jan Doolan.
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