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Flüchtlingsrekord auf den KanarenWie die kleine Insel El Hierro zum neuen Lampedusa im Atlantik wurde

Flüchtlingsrekord auf den Kanaren / Wie die kleine Insel El Hierro zum neuen Lampedusa im Atlantik wurde
El Hierro, die westlichste der spanischen Kanarischen Inseln im Atlantik, erlebt derzeit einen beispiellosen Anstieg der Zahl der ankommenden Migranten aus Afrika, der die Sozialdienste der Insel überfordert Foto: AFP/Stringer

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Immer mehr Flüchtlinge, immer größere Boote und immer mehr Todesopfer – noch nie landeten auf den Kanarischen Inseln so viele Migranten wie in diesem Jahr.

Bereits mehr als 32.000 Menschen gelangten in 2023 in Fischerkähnen und Schlauchbooten auf die spanischen Ferieninseln, die vor der westafrikanischen Küste liegen. Die meisten Boote erreichten die kleine Kanareninsel El Hierro, auf der nur 11.000 Menschen leben und die auf dem Weg ist, zum neuen Lampedusa im Atlantik zu werden.

„Die Zahlen spiegeln die humanitäre Notlage, die sich derzeit auf den Kanaren abspielt“, sagt Fernando Clavijo, der Ministerpräsident der Inselregion. 2023 seien bereits mehr Bootsmigranten auf den Kanaren angekommen als während der bis dahin schlimmsten Flüchtlingskrise auf den Inseln im Jahr 2006. Damals landeten 31.000 Schutzsuchende auf dem kanarischen Archipel, der Andrang sorgte für chaotische Zustände. Inzwischen sind Behörden und Helfer zwar besser vorbereitet, aber trotzdem sind auch jetzt wieder die Aufnahmelager völlig überfüllt.

Besonders dramatisch ist die Lage auf El Hierro, der kleinsten der Kanarischen Inseln. „Wir können nicht so viele Menschen bei uns aufnehmen“, sagt Alpidio Armas, der Inselpräsident El Hierros. Dieses Jahr seien allein hier schon 12.000 Flüchtlinge angekommen – das sind mehr als die Insel Einwohner hat. „Wir haben nicht die Mittel, um die Menschen zu versorgen“, sagt Armas. „Nicht einmal der Bäcker ist darauf vorbereitet, statt bisher 100 plötzlich 1.000 Brote am Tag zu backen.“ Als provisorisches Auffanglager dient auf der Insel ein altes Kloster.

Kontrollen führen zu längeren Wegen

El Hierro ist ein ziemlich abgelegenes grünes Paradies, das bisher vor allem bei Wanderern und Individualurlaubern beliebt war. Dieses Jahr ist die Insel, die rund 500 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt liegt, zum neuen Epizentrum der Migration im Atlantik geworden. In früheren Jahren kamen hier nur wenige Flüchtlinge an. Die Steuerleute der Elendskähne bevorzugten bislang die bekannten Kanareninseln Gran Canaria und Fuerteventura, die sehr viel größer sind und vor allem näher an der westafrikanischen Küste liegen.

Doch seit Spanien in Kooperation mit Marokko, Mauretanien, Senegal und Gambia die Seegrenze entlang der westafrikanischen Küste immer schärfer überwacht, hat sich die Migrationsroute tiefer in den Atlantik hinein verlagert. „Die Flüchtlingsschiffe versuchen jetzt, die Kontrollen des Grenzschutzes zu umgehen, indem sie in möglichst großem Abstand zur Küste fahren“, berichtet ein Beamter des spanischen Seenotdienstes. Der Kurs Richtung El Hierro, das weit westlich im Atlantik liegt, erhöht die Chancen, nicht entdeckt zu werden.

Vor Kurzem war Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska im Senegal, um mit der dortigen Regierung einen Ausbau der gemeinsamen Grenzkontrollen zu besprechen. Im Krisen- und Armutsstaat Senegal stechen derzeit die meisten Immigrantenschiffe in See. Was offenbar auch damit zu tun hat, dass im Senegal eine autoritäre Regierung am Ruder ist, die den Oppositionsführer ins Gefängnis steckte und seine Anhänger drangsaliert. „Wir haben keine Zukunft in unserem Land“, sagen viele junge Senegalesen, die derzeit auf den Kanaren ankommen und dort einen Antrag auf Asyl stellen.

Spanien hat im Senegal wie auch im benachbarten Mauretanien Küstenwachschiffe und -flugzeuge stationiert, die zusammen mit den heimischen Sicherheitskräften die Seegrenzen kontrollieren. Wenn die Grenzer Flüchtlingsschiffe innerhalb der afrikanischen Hoheitsgewässer entdecken, schleppen sie diese zurück. Auf diese Weise seien dieses Jahr etwa 12.500 Menschen an der Überfahrt Richtung Europa gehindert worden, berichtet Innenminister Grande-Marlaska.

Eine 1.400 Kilometer lange Seefahrt

Die Kontrolle der Seegrenzen führt dazu, dass die Migranten immer längere und Wege in Kauf nehmen, um die Kanaren zu erreichen. Damit steigt auch das Risiko. Nach der Statistik des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR kamen auf dieser Strecke seit Jahresbeginn mindestens 512 Menschen ums Leben – das sind nur die offiziell bestätigten Todesfälle. Private Hilfsorganisationen glauben, dass die wirkliche Opferzahl höher ist, da viele Boote im Atlantik spurlos verschwinden.

Rund sieben Tage dauert die 1.400 Kilometer lange Seefahrt von Senegal bis zu den Kanaren. Auch in jenen Booten, die es bis zu den Inseln schaffen, überleben nicht alle. Immer wieder müssen die spanischen Retter Tote aus den ankommenden Schiffen bergen. Manche Flüchtlinge sterben auch im Krankenhaus auf El Hierro, weil ihre Körper sich nicht von der strapaziösen Horrorfahrt übers Meer, meist ohne Wasser und Nahrungsmittel, erholen.

Viele der geborgenen Todesopfer können mangels Ausweisdokumenten nicht identifiziert werden. Auf den Friedhöfen auf El Hierro mehren sich daher Grabinschriften, auf denen geschrieben steht: „Unbekannter Immigrant – Ruhe in Frieden.“