Editorial / Wie die EU an den Afghanen ein Exempel statuiert und dabei ihre Würde verliert

Taliban-Kämpfer in Kabul: Europas Rechtsausleger haben sich durchgesetzt, die Afghanen dienen nun als abschreckende Botschaft (Foto: AFP/Wakil Kohsar)
Die Zukunft jener Afghanen, deren Verbleib in Europa noch nicht dauerhaft rechtlich gesichert ist, wurde mit der Machtübernahme der Taliban noch unsicherer. In der Europäischen Union fragt man sich seitdem, wie mit ihnen umzugehen ist. Dass Europa vergangene Woche die Aufnahme bedrohter Afghanen ablehnte, ist ein düsteres Signal.
Entscheiden sich die EU-Staaten auch in ihrer Frage für den kleinsten moralischen Nenner, droht eine Abschiebewelle. Nicht nach Afghanistan, sondern in die Nachbarstaaten. Die EU verspricht diesen viel Geld für vor den Taliban fliehenden Afghanen. Wieso sie nicht dorthin zurückschicken? Jene EU-Staaten, die beim Treffen ihrer Innenminister vergangene Woche nahezu widerstandslos die Meinungshoheit übernahmen, streben eine solche Lösung zum Teil offen an.
Am Dienstag sperrten sich vor allem Österreich, Dänemark, Tschechien, Ungarn und Slowenien gegen die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge. 2015 darf sich nicht wiederholen, heißt es zur Begründung der eigenen Brutalität, für die sich kaum jemand mehr schämt. Doch die Fluchtbewegungen innerhalb Afghanistans sind bislang überschaubar geblieben. Migrationsexperten halten einen Vergleich der heutigen Lage in Afghanistan mit jener in Syrien Mitte des vergangenen Jahrzehnts für weit hergeholt.
Diese Woche ging es nicht um eine Grenzöffnung oder darum, Hunderttausende aufzunehmen – sondern darum, ob man aufgrund der Außergewöhnlichkeit der Lage versuchen soll, gemeinsam ein paar Tausend Menschen zu retten, deren Leben unter den Taliban bedroht ist, weil sie entweder für den Westen arbeiteten oder für westliche Werte eintraten. Doch nicht einmal eine solche Absichtserklärung war gewünscht. Europa benutzt die Afghanen, um ein Exempel zu statuieren: Wer Richterinnen nicht vor den Taliban rettet, kennt kein Erbarmen und hat keine Skrupel – also kommt besser gar nicht erst auf die Idee, zu uns kommen zu wollen. Das ist die abschreckende Botschaft. Und die ist gewollt.
Innenpolitisch wiegt sie für einige Gold. Mit Migrationsfeindlichkeit und Angstschüren lassen sich Wahlen gewinnen und bereits gewonnene Wähler halten. In Afghanistan ging es um Richterinnen, Journalisten, Menschenrechtlerinnen, Menschen, die für die Gleichberechtigung kämpften. Die Regierungen von Viktor Orban in Ungarn, Janez Jansa in Slowenien und Sebastian Kurz in Österreich haben sich gegen die Aufnahme gesperrt. Alle drei Regierungschefs üben in ihrer jeweils landeseigenen Spielart Druck auf Medien aus, legen sich mit Gerichten oder Staatsanwaltschaften an, sehen missliebige Journalisten oder Menschenrechtler als Störenfriede, manchmal gar als Feinde.
An den Afghanen wurde ein Exempel statuiert. Europas regionale Rechtsausleger haben sich durchgesetzt, die großen Staaten haben sie mehr oder weniger machen lassen. Gemeinsame Wertvorstellungen wurden über Bord geworfen. Ein würdeloser Vorgang – und der Hinweis, woher der Wind inzwischen weht.