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Gastbeitrag„Whataboutism“: Nicht nur rhetorisches Spielzeug für Internetkommentarfelder

Gastbeitrag / „Whataboutism“: Nicht nur rhetorisches Spielzeug für Internetkommentarfelder
Ein typisches Whataboutism: Bei Beiträgen zu „Geflüchteten“ liest man, dass „wir uns um die Obdachlosen in unserem Land kümmern sollten“ oder „wir hätten genug eigene Probleme“. Dabei wird das Schicksal von Obdachlosen gegen das von Geflüchteten ausgespielt.  Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Den Begriff „Whataboutism“ hört man in kontroversen Diskussionen immer wieder. Egal, ob der thematische Schwerpunkt etwa Geflüchtete, Frauenrechte, Rassismus oder Veganismus ist, kontinuierlich stößt man auf diesen Begriff. Doch was bedeutet er eigentlich?

 „Whataboutism“ lässt sich nur sperrig ins Deutsche übersetzen. Eine Übersetzung dieses englischen Kunstbegriffes wäre etwa „Was-ist-damit-ismus‘“. Dieser Begriff bezeichnet einen rhetorischen Trick, bei dem von einem Thema abgelenkt wird, in dem Einwände angeführt werden, die nur auf den ersten Blick als Gegenargument wirken, sich aber im Rahmen einer konkreten Diskussion als weitgehend wertlos herausstellen.

Herkunft und Bedeutung

„Whataboutism“ war ursprünglich als Whataboutery bekannt und wurde in den 1970er vom Westen in Zusammenhang mit sowjetischer Berichterstattung benutzt. Whataboutism ist damit ein rhetorisches Mittel, das man dem Rabulismus zu ordnen kann. Der Rabulismus, auch noch als „schwarze Rhetorik“ bekannt, beschreibt die moralisch zweifelhafte Kunst, in Diskussionen auch ohne Argumente durch Übertreibung, Verhöhnung, Verweis auf Ausnahmefälle und unter anderem gespielte Empörung stets die Oberhand zu behalten.

Das Ziel dieses rhetorischen Mittels ist es, den Gegenüber zu diskreditieren und von dem eigentlichen Diskussionsinhalt abzulenken. Konkret geht es darum, in einer Diskussion Gegenargumente oder Gegenfragen vorzubringen, deren inhaltlicher Bezug im eigentlichen Argument und Thema eigentlich fehlt. Das Gesagte wirkt dabei immer als Kritik und Vorwurf und sabotiert die eigentliche Diskussion. Der Gegenüber kann die Aussage nur schwerlich abstreiten und wird von der eigentlichen Fragestellung entweder abgelenkt oder sogar herabgewürdigt.

Motive

Whataboutismen lenken vom ursprünglichen Thema ab, indem sie Pseudo-Argumente betonen, die echte Argumente scheinbar entkräften. Whataboutismen sind oft Gegenvorwürfe von Menschen, die sich in auf irgendeiner Ebene des eigentlichen Diskussionsinhaltes angegriffen fühlen. Diese Person stellt ihre Gegenüber als Hypokriten dar. Dabei relativiert er*sie alles und jeden und muss sich so auch nicht mit Antworten oder legitimen Argumenten beschäftigen.

Hinzu kommt dass, wer auf Whataboutismen verärgert reagiert, dem Publikum unsympathischer wirkt, was den Whataboutisten in die Karten spielt. Selbstredend kann es sich bei den Gegenvorwürfen auch um eine Enttarnung der Doppelmoral handeln. Jedoch ist auffällig, dass sich oft Menschen zu Wort melden, die sich jahrelang nicht mit der Thematik befasst haben, bis sie sich plötzlich selbst betroffen fühlen.

Beispiele für Whataboutismen gibt es zahlreiche. Man muss sich nur kurz in die Kommentarfelder in den sozialen Medien begeben, um mit Whataboutismen überflutet zu werden. So liest man immer wieder, dass bei Beiträgen zu „Geflüchteten“ „wir uns um die Obdachlosen in unserem Land kümmern sollten“ oder „wir hätten genug eigene Probleme“. Dabei wird das Schicksal von Obdachlosen gegen das von Geflüchteten ausgespielt. Konkrete Lösungsvorschläge oder Argumente fehlen bei der Aussage vollends, doch es reicht, um von der eigentlichen menschlichen Misere abzulenken.

Das gleiche Phänomen kann man bei Frauenrechtdebatten sehen, bei denen immer wieder angeführt wird, dass es auch einige Berufe gäbe, wo man als Mann unterrepräsentiert sei. Auch hier werden zwei Themen gegeneinander ausgespielt, um der Frauenrechtsbewegung Luft aus den Segeln zu nehmen. Weitere Beispiele wäre das Pseudo-Argument, Rassismus wäre hierzulande nicht so schlimm, weil wir keine Fälle von „Police Shootings“ hätten, es gäbe keine Homophobie, weil wir einen homosexuellen Premierminister hätten usw.

Die Funktionsweise ist immer die gleiche. Das Ziel ebenso. Es soll von der eigentlichen Diskussion abgelenkt werden und der Inhalt soll diskreditiert werden. Auf persönlicher Ebene Dabei ist Whataboutism auch in gewissen Maßen ein Selbstschutz der sich äußernden Person. Man sieht sich konfrontiert mit einem Thema, das einen selbst infrage stellt oder auf einen Missstand hinweist, von dem man selbst profitiert. Der gesellschaftliche Reflex ist es, den Gegenüber oder die Thematik als Gegner anzusehen und zu attackieren, um sich nicht selbst hinterfragen zu müssen.

Paradoxerweise, so scheint es, hat eine Person mehr mit Whataboutism zu kämpfen, je mehr sie sich für etwas einsetzt. Dies erklärt sich vor allem dadurch, dass es für uns leichter ist, nach einem Kritikpunkt zu suchen und einen Aspekt festzumachen, bei dem der Gegenüber nicht perfekt ist, als uns selbst zu hinterfragen.

Schulhofmentalität im Alltag

Bei Whataboutism geht es nie um die Diskussion. Es geht nur darum, den Diskussionsinhalt kleinzureden und abzutun und schlussendlich als „Gewinner vom Platz“ zu gehen. Dieses Verhalten kennen wir noch aus unserer Schulzeit vom Pausenhof. Praktiziert wird es aber noch heute in unserem Alltag.

Dabei ist der Whataboutismus im Internet zum Alltag geworden. In Kommentarspalten und in sozialen Medien werden Missstände nur noch mit Missständen beantwortet. Meinung und Fakten scheinen plötzlich zu Synonymen zu werden und am Ende müssen wir feststellen, dass wir nicht nur erhebliche Zeit damit verbracht haben, mit Leuten zu diskutieren, die nie an einer Diskussion interessiert waren, sondern dass wir sogar selbst sehr oft zu Whataboutisten werden.

* Andy Schammo studiert Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema „Institutionelle Diskriminierung im Luxemburger Bildungswesen“. Er setzt sich privat gegen Diskriminierung und Ungleichheiten ein.