Drei Vorgänge, eine Gesamtsituation: Private Initiativen melden, im Mittelmeer am Wochenende wieder Hunderte von Geflüchteten vor dem Ertrinken gerettet zu haben. Libysche Grenzschützer und internationale Helfer berichten, 191 Geflüchtete aus der Wüste in Sicherheit gebracht zu haben, wohin sie offenbar von tunesischen Militärs verschleppt worden waren. Im Innenausschuss des Europa-Parlamentes bezeichnet die Direktorin der Europäischen Asyl-Agentur, Nina Gregori, die Lage als „dramatisch“ angesichts eines Anstiegs auf eine Million Asylanträge. Die drei Momentaufnahmen bilden den Hintergrund für das, was am Sonntagabend in Tunis geschah.
Nach monatelangen Verhandlungen treten die Regierungschefs von Italien und den Niederlanden, Giorgia Meloni und Mark Rutte, mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem tunesischen Staatspräsidenten Kais Saied vor die Kameras, um die Verständigung zu verkünden. Die Absichtserklärung für ein EU-Tunesien-Abkommen steht. Das Interesse ist klar: Tunesien soll zum einen eigene Landsleute aus vielen europäischen Ländern zurücknehmen, die sie als illegale Migranten erreichten, ohne einen Schutzstatus zu erhalten. Tunesien soll zum anderen die Küstenwache verstärkt gegen Menschenschmuggler vorgehen lassen. Und Tunesien soll insgesamt dafür sorgen, dass es weniger illegale Migration über das Mittelmeer Richtung Europa gibt.
Was ist die Gegenleistung der EU? Zunächst einmal 150 Millionen Euro Haushaltsbeihilfe, um das nordafrikanische Land vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Weitere Kredithilfen in beträchtlicher dreistelliger Millionenhöhe sind möglich, wenn bestimmte Bedingungen in den Verhandlungen zwischen Tunesien und dem Internationalen Währungsfonds erfüllt sind. Dann geht es vor allem um eine 105-Millionen-Euro-Zahlung als Unterstützung des Vorgehens gegen illegale Migration – eine Verdoppelung der bisherigen EU-Überweisungen.
Doch das ist nur ein Teil der Verständigung. Die EU hat auch eingewilligt, eine direkte Stromverbindung nach Italien zu unterstützen und das Land in den europäischen Strommarkt zu integrieren. Es sollen Pilotprojekte für den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien finanziert werden. Zudem bekommen die Tunesier Zugang zu den Wissenschafts- und Ausbildungsprogrammen der EU. Weitere Stabilisierungen verspricht sich das Land durch die Zusammenarbeit mit Europa in den Bereichen der Landwirtschaft, der Digitalisierung, der Investitionen und des Luftverkehrs, womit etwa mehr Touristen dorthin kommen sollen.
Mitgliedstaaten müssen noch zustimmen
Das Abkommen selbst ist jedoch noch nicht fertig. Der Fahrplan für die Umsetzung der einzelnen Punkte sieht Fortschritte bis zum Jahresende vor. Zahlreiche Details sind noch zu klären. So gibt es in verschiedenen EU-Mitgliedsländer die Erwartung, dass Geflüchtete, die über Tunesien nach Europa kamen, auch über Tunesien in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollen. Das Land will aber nicht zum Sammelpunkt für illegale Migranten aus vielen anderen Ländern werden. Zudem ist das Paket nicht nur von der Kommission, sondern auch vom Ministerrat der EU zu verabschieden. Kritische Stimmen meldeten sich bereits aus dem EU-Parlament mit der Frage, wie die EU vermeiden wolle, unmenschliches Vorgehen tunesischer Sicherheitskräfte gegen Geflüchtete indirekt zu unterstützen.
„Es ist richtig, dass wir uns mit aller Kraft auf die Bekämpfung von Schleuserkriminalität in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten fokussieren und gleichzeitig Tunesien wirtschaftlich unterstützen“, lautet die Einschätzung der EU-Parlamentarierin und Migrationsexpertin Lena Düpont. „Zu lange schon haben wir illegaler Migration und unhaltbaren Zuständen an unseren Außengrenzen tatenlos zusehen müssen“, unterstreicht die EVP-Politikerin. Dagegen ist für den Grünen-Innenexperten Julian Pahlke das geplante Abkommen „hochproblematisch“. Seine Befürchtung: Wenn eine Fluchtroute geschlossen werde, würden die Menschen auf noch gefährlichere ausweichen. Die Linke fordert, das Abkommen im Rat abzulehnen. Wenn Tunesien Asylsuchende in der Wüste aussetze, sei es zynisch, das Land zum „Türsteher Europas“ zu machen.
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