Für viele Russen bleibt Gorbatschow der Terminator der „glorreichen Sowjetunion“, welche die Hauptlast des Sieges der Alliierten über Hitlers Regime trug. Und nach dem Zweiten Weltkrieg während eines halben Jahrhunderts auf Augenhöhe mit der Supermacht USA stand.
In Wirklichkeit wurde die UdSSR aufgelöst durch den einsamen Beschluss der drei Präsidenten der slawischen Sowjet-Republiken, Russland, Ukraine und Weißrussland. Die sich am 8. Dezember 1991 in einem Waldhaus nahe der polnischen Grenze trafen, um mit einigen Federstrichen die 1922 begründete Union der sozialistischen Sowjet-Republiken zu begraben. Es war ein Putsch gegen den legitimen Präsidenten, Michael Gorbatschow.
Für Boris Jelzin, damals Präsident der Russischen Teilrepublik, war dies das Mittel zur Macht. Was ihm gelang. Gorbatschow, anstatt gegen die Putschisten vorzugehen, zog sich am 25. Dezember 1991 von allen Ämtern zurück. Jelzin übernahm bis zu seinem Rücktritt am 31. Dezember 1999. Nach acht chaotischen Jahren, welche zur Ausplünderung der ehemaligen UdSSR durch eine kleine Schicht von Ex-KP-Funktionären in den neuen Staaten und in Russland selbst führte. Jelzins Rücktritt machte zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Platz frei für seinen Ministerpräsidenten Wladimir Putin.
Gorbatschows Erbe
Die Ära Gorbatschow wird in die Weltgeschichte eingehen. Die Sowjetunion wurde mit Breschnew und dessen drei Nachfolgern von „Todkranken, Halbtoten und Halblebendigen“ geführt. Mit Gorbatschow kam erstmals ein junger und dynamischer Generalsekretär der allein selig machenden KP an die Macht. Gorbatschow war Kommunist. Wollte seinem Land den „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ erhalten. Hatte jedoch erkannt, dass das völlig verknöcherte System nur einer Oberschicht von Apparatschiks ein angenehmes Leben erlaubte, während das zelebrierte Proletariat Schlange vor halbleeren Läden stehen musste.
Gorbatschow wurde zum Reformer. Er beendete den Krieg in Afghanistan. Suchte den Dialog mit den USA. Was progressiv zu einem Abbau ganzer Klassen von nuklearen Waffensystemen führte. Und zur Entspannung im Kalten Krieg zwischen Ost und West. In der Sowjetunion räumte er unter den korrupten Bürokraten auf. Hunderte hohe Apparatschiks, Gouverneure, Generäle wurden entlassen. Was ihm nicht nur Freunde brachte. Seine Reformen, mehr Transparenz, freie Wahlen auf kommunaler Ebene, Pressefreiheit, keine Zensur mehr für Bücher von Pasternak bis Soljenitzin, Rehabilitierung von Regimegegnern wie Andrei Sacharow interessierte den Basis-Rabotschnik wenig. Die störten sich an der Kampagne gegen den Wodka-Konsum. Vor allem am Ausbleiben der Verbesserung ihres kümmerlichen Lebensstandards.
Als Staatssekretär im Außenministerium war es mir in den 80 Jahren vergönnt, an wichtigen NATO-Sitzungen teilzunehmen. Nach dem ersten Gipfel zwischen Gorbatschow und Präsident Ronald Reagan in Reykjavik kam Letzterer zur Information der NATO-Partner nach Brüssel. Gorbatschow hatte weitreichende Konzessionen zur Beendigung des Wettrüstens angeboten. Viele waren skeptisch. Konnte man Gorbatschow vertrauen?
Auf einem NATO-Gipfel im kanadischen Halifax schloss Lord Carrington, damaliger Generalsekretär, alle Diplomaten von der Ministerrunde aus und verbat diesen, vorgefertigte Reden zu verlesen. Es war eine der produktivsten Sitzungen, denen ich beiwohnte. Tenor war, dass man auf Gorbatschows Abrüstungsangebote eingehen sollte.
Mein Beitrag war, der Westen sollte Gorbatschow bei seinen internen Reformen unterstützen. Gorbatschows Position war innerhalb der KPdSU umstritten. Was man daran erkennen konnte, dass der Generalsekretär keinen Parteikongress einberief, um sich Rückendeckung zu verschaffen, sondern eine Parteikonferenz. Stalin hatte dies nach dem Angriff von Hitler-Deutschland vorexerziert. Laut KP-Statuten hatte eine Konferenz die gleichen Befugnisse zur politischen Weichenstellung wie ein Kongress. Doch nur Kongresse konnten die Zusammensetzung der Parteiorgane verändern. Gorbatschow wollte offensichtlich die Mitglieder des Zentralkomitees nicht in Existenzängste bringen. So blieben viele seiner internen Kritiker in Amt und Würden. Im Nachhinein ein Fehler. Reformer scheitern immer wieder an der passiven Resistenz der Etablierten.
Eine richtige Fabel
Ein hoher sowjetischer Diplomat erzählte mir damals folgende Fabel: Ein Dampfzug bleibt in Sibirien im Schnee stecken. Im Abteil sitzen Stalin, Chruschtschow, Breschnew und Gorbatschow. Stalin schreit: Sabotage! Er lässt das gesamte Zugpersonal erschießen. Der Zug bleibt stecken. Chruschtschow sagt: Ich rehabilitiere das Zugpersonal. Der Zug steht weiter. Breschnew sagt: Ich habe die Lösung. Wir ziehen die Fenstervorhänge zu. Niemand sieht, dass der Zug feststeckt. Sagt Gorbatschow: Ich werde alles reformieren. Begibt sich in die Lokomotive. Beim Versuch, kraftvoll in die verrostete Steuerung einzugreifen, stürzt er und bricht sich das Genick.
So geschehen. Obwohl der Reformeifer Gorbatschows die Welt veränderte. Ohne dessen Zutun wäre die Berliner Mauer nicht gefallen, hätte es keine deutsche Wiedervereinigung und keine Neuaufstellung Europas gegeben. Der Westen feierte „Gorbi“. Doch als die Widerstände in der zerfallenden Sowjetunion immer größer wurden, ließen die USA Gorbatschow zugunsten von Jelzin fallen.
Andrei Gratchev, Gorbatschows letzter Sprecher, schreibt in seinem lesenswerten Buch „Le jour où l’URSS a disparu“, dass Reagans Nachfolger George Bush sowie vor allem Verteidigungsminister Dick Cheney und Sicherheitsberater Brent Scowcroft als Devise hatten: „Alles nehmen, nichts geben, mehr fordern.“ Wobei sie Gorbatschow schon abgeschrieben hatten.
Ein Mitterrand versuchte vor den Folgen zu warnen. Kohl und selbst Maggy Thatcher plädierten für eine materielle Unterstützung für Gorbatschow. Doch Thatchers Nachfolger John Major bestärkte die Amerikaner in ihrer Hinhaltetaktik. Als Kohl bei George Bush für eine Stützung des Reformers in Moskau plädierte, sagte der US-Präsident kaltblütig: „Ihr Deutschen habt doch tiefe Taschen.“ Einzig Außenminister James Baker vermittelte dem Bürgermeister von Moskau aus den Stocks der US-Army in Deutschland etwas Lebensmittel-Hilfe.
Joker Jelzin
Das egoistische Kalkül der Amerikaner ging auf. Nachdem Jelzin die Präsidentschaft der neu gegründeten Russischen Föderation übernommen hatte, marschierten amerikanische Berater in Kompanie-Stärke in Moskau auf, um der neuen russischen Regierung bei der Privatisierung und Modernisierung der maroden russischen Wirtschaft zu helfen. Die Liberalisierung geriet zu einer Orgie der Selbstbereicherung. Hunderte Oligarchen rissen das russische Volksvermögen an sich. Viele der Neureichen investierten in Medien, in Rundfunk und Fernsehen. Als Jelzin sich zur Neuwahl als Präsident stellte, trommelten die von den Oligarchen kontrollierten Medien für dessen Wiederwahl. Bewiesen somit ihre Macht.
Doch dann kam Putin. Der einige Exempel an Oligarchen statuieren ließ. Alle hatten genug Dreck am Stecken, um sich zu fügen. Der charismatische Chodorkowski musste wegen Steuerhinterziehung ins Straflager. Einige flüchteten mit ihrem Geld nach London, Monaco, Zypern und Israel. Die anderen unterwarfen sich Putin. Ihre Medien trommelten nun in völliger Pressefreiheit für den neuen starken Mann. Der beim russischen Volk gut ankam, weil er gegen die „Reichen“ sowie gegen die tschetschenischen Terroristen vorging. Und dafür sorgte, dass Renten und Gehälter wieder pünktlich gezahlt wurden.
Was Gorbatschow nicht gelungen war. Was erklärt, weshalb heute noch Putin bei vielen Russen populärer als Gorbatschow ist.
Gorbatschow bleibt der große Reformer, der die Neugestaltung der Geopolitik möglich machte. Doch seine internen Reformen entfesselten in allen Teilen der UdSSR nationalistische Gefühle. Der von Stalin mit Terror geschaffene Viel-Völker-Staat zerfiel schneller, als die von Gorbatschow geschaffene embryonale Demokratie gegenhalten konnte.
Die Sowjetunion starb nicht durch das vom freien Westen gewonnene Wettrüsten, wie die Reagan, Bush und Co. sich selbst zelebrierten. Die Sowjetunion wurde das Opfer eines nationalistischen Wettrennens. Das noch andauert. Davon mehr in einem zweiten Artikel.
* Robert Goebbels ist ein ehemaliger Minister (LSAP) und Europaabgeordneter.
Guten Tag Herr Goebbels,
wieso haben Sie als Minister nicht dafür gesorgt, dass der Nazidreck am Stecken des luxemburger Staates den Völkern der Weltgemeinschaft bekannt gemacht wurde? Luxemburg hat Nazideutschland doch erst im September 1942, also lange nach Stalingrad, den Krieg erklärt. Wie Sie es in Ihrem kenntnisreich-wertvollen Artikel beschreiben, ist eine autoritär-nationalistische Mentalität ohne permanente öffentliche Kritik unverwundtbar, ob in Europa, in Russland oder in den USA. Der bisherige Umgang der luxemburgischen Regierungen mit der Begeisterung im luxemburger Staat für Faschismus und antisemitisch-eugenischen Nationalsozialismus ist stark suboptimal und verhängnisvoll!
MfG
Robert Hottua