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Vom Kritiker zum Nationalhistoriker

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Tageblatt-Redakteur Pol Schock erklärt, warum Gilbert Trausch der bedeutendste Historiker des 20. Jahrhunderts ist.

Der luxemburgische Historiker Gilbert Trausch ist im Alter von 86 Jahren
verstorben. Mit seiner Forschung revolutionierte er Luxemburgs Geschichtsschreibung und war Ziehvater einer ganzen Generation von Historikern.

Als der junge Benoît Majerus 2007 Werk und Forschung von Gilbert Trausch bei den «Assises de l’historiographie luxembourgeoise» kritisch analysierte, war die Empörung groß. Majerus’ These: Nach kritischer Forschung in den Anfangsjahren sei Trausch spätestens ab Ende der 1980er Jahre zu einem Apologet der Luxemburger Nation geworden – sein Werk diente fortan der Legitimierung der Nation.

Viele Kollegen hielten die Kritik damals für deutlich überzogen, Majerus würde die Leistung Trauschs in ein falsches Licht rücken. Der Beitrag «Dessine-moi une nation» wurde schließlich nicht veröffentlicht – bis heute.

Benoît Majerus steht der Episode heute gelassen gegenüber. Tatsächlich waren wohl einige Kritikpunkte überspitzt formuliert, so Majerus, aber an seiner Grundthese hält er fest. Dabei verweist die Anekdote vor allem auf eines: den außerordentlichen Stellenwert, den der Historiker Gilbert Trausch in Luxemburg genoss.

Trausch gilt als wichtigster Historiker Luxemburgs des 20. Jahrhunderts. Da ist sich die Luxemburger Historiografie einig – auch Majerus sieht das so. «Wer sich für Luxemburger Geschichte interessiert, kommt an Trauschs Werk nicht vorbei», sagt Denis Scuto, Historiker am Institut für Zeitgeschichte. «Er hat die Wissenschaftlichkeit in Luxemburgs Geschichtsforschung gebracht», sagt Michel Pauly, emeritierter Professor der Universität Luxemburg. «Er steht für einen Paradigmenwechsel in Luxemburg.» Wer sich an Trauschs Nimbus abarbeiten wollte, musste folglich außerordentliche Beweise aufbringen.

Der frühe Trausch: Die kritische Phase

Dabei lässt sich Trauschs Werk durchaus in eine frühe und spätere Phase einteilen. Nach seinem Abitur im «Lycée de garçons» in Luxemburg studierte er Geschichte an der Sorbonne in Paris und an der Universität von Exeter. In Paris wurde er maßgeblich geprägt von der französischen Annales-Schule. Die Methodologie der «Nouvelle histoire», die auf Marc Bloch und Lucien Febvre zurückgeht, setzte in ihrer Analyse Wirtschaft und Gesellschaft in den Vordergrund. Vereinfacht ausgedrückt, versuchte die Annales-Schule, die Geschichte aus den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zu erklären.

Mit dieser Methodologie ausgestattet, analysiert Trausch in den 1960er und 1970er Jahren mehrere Aspekte der modernen Geschichte Luxemburgs. So war für Trausch etwa der «Klëppelkrich» Ende des 18. Jahrhunderts kein nationaler oder religiöser Befreiungskampf, sondern vielmehr ein sozioökonomischer Aufstand von hungernden Bauern. Ein Kampf um Scholle und Brot, weniger um Glaube und Vaterland. Der Bruch mit der nationalen Deutung des «Klëppelkrich» brachte dem jungen Trausch damals viel Kritik ein. Heute halten Historiker wie Pauly, Scuto oder auch Majerus dieses Werk für einen Meilenstein der Luxemburger Geschichte.

In den 1970er Jahren war Trausch an der Überarbeitung der Geschichtsbücher des Grundschulunterrichts beteiligt. Laut Majerus ging er auch hier für
Luxemburg neue Wege: Er erzählte die Geschichte Luxemburgs nicht mehr entlang von Dynastien, sondern brachte erneut die sozioökonomische Perspektive sowie Quellenmaterial mit ein.

Staatstragend

Von 1972 bis 1984 war er der Leiter der Nationalbibliothek. Bereits ab 1968 unterrichtete er am «Centre universitaire de Luxembourg», dessen Leitung er 1984 übernahm. Ende der 1980er Jahre organisierte er die groß angelegte Ausstellung der 150-Jahr-Feiern der Unabhängigkeit Luxemburgs. Die Ausstellung machte Trausch definitiv zu einer bekannten Person des öffentlichen Lebens. Seine Festrede wurde damals im Radio übertragen. Er war der erste und bisher einzige Historiker, der in einer Ausgabe des «Superjhemp» illustriert wurde, so Majerus. Allerdings lässt sich spätestens ab diesem Zeitpunkt Trauschs Übergang zu einem staatstragenden Nationalhistoriker erkennen.

Die Überblicksdarstellung «Le Luxembourg: Emergence d’un Etat et d’une Nation», die begleitend zur Schau erschien, ist eine identitätsstiftende Erzählung zur Entstehung der Luxemburger Nation – mit klarem Anfang und Ende. Trausch zieht eine Linie von einem Luxemburger Partikularbewusstsein im 18. Jahrhundert über die Staatsgründung im 19. Jahrhundert bis zum Abschluss der nationalen Identität mit dem Widerstand gegen das NS-Reich im Zweiten Weltkrieg. «Das Werk ist durchaus relevant», so Majerus, aber es würde auf ein klares Ziel hinarbeiten und Brüche sowie mögliche andere Entwicklungen ausblenden. Am Ende der Geschichte steht ein gefestigtes Luxemburg, so Majerus.

In der Folge hielt Trausch, der als exzellenter Rhetoriker galt mit vorzüglicher französischer Sprache, etliche öffentliche Vorträge zu Gedenkanlässen. Er schrieb Beiträge für die BGL, die CSV oder andere Institutionen des Landes. Trausch festigte seine Stellung – wurde somit gewissermaßen selbst zu einer Institution des Landes. So galt es noch in den 1990er Jahren: Wer etwas über Luxemburger Geschichte publizieren wollte, sollte zunächst das Gespräch mit Trausch suchen und dessen Urteil abwarten.

Exzellent vernetzt

Nach der erfolgreichen Ausstellung von 1989 erhielt er sein eigenes Institut. Er wurde Direktor des «Centre d’études et de recherches européennes Robert Schuman» (CERE) und zum Regierungsberater ernannt. Dort widmete er sich vor allem der Erforschung der Geschichte der Europäischen Integration. Zudem lehrte er an der Universität Lüttich und am «Collège d’Europe» in Brügge. Trausch galt als international bestens vernetzt. Sein Name ist bis heute an Universitäten in ganz Europa ein Begriff.

Er war dabei Ziehvater einer ganzen Generation von Luxemburger Historikern. «Er verstand es auf eindrucksvolle Art und Weise, Geschichte und Lehre zu verbinden», sagt Michel Margue, Mediävist an der Universität Luxemburg. Er vermittelte in den Seminaren die eigenen Erkenntnisse lebhaft an seine Studenten.

Auch galt er als Intellektueller, der sowohl im akademischen Raum wie in der Öffentlichkeit überzeugen konnte. «Trausch hat das Interesse an Geschichte in der Luxemburger Gesellschaft geweckt», so Scuto.

Trotz seiner außerordentlichen, fast paternalistischen Position in Luxemburg galt Trausch dabei nie als überheblich, sondern wird von Zeitgenossen als äußerst angenehme und sympathische Person beschrieben. Und gegen Ende seiner wissenschaftlichen Schaffenszeit stellte Trausch implizit die traditionelle Bedeutung der Nation infrage. Angesichts der hohen  Immigrantenzahlen in Luxemburg plädierte er für einen Verfassungspatriotismus. Trausch hinterlässt ein beeindruckendes und konzises Werk Geschichte, das in Luxemburg seinesgleichen sucht.

Gilbert Trausch ist am Wochenende an den Folgen eines Schlaganfalls von 2009 gestorben. Er war mit der 1995 verstorbenen Cathérine Bribet verheiratet und Vater von zwei Kindern.