Laut dem US-Büro für Arbeitsstatistik (Bureau of Labor Statistics, BLS) lag die US-Arbeitslosenrate im Juni bei 5,9 Prozent, verglichen mit dem vorpandemischen Wert (vom Februar 2020) in Höhe von 3,5 Prozent. Nehmen wir die letztere Zahl als Schätzung der natürlichen Arbeitslosenquote, bekommen wir eine Produktionslücke von 4,8 Prozent. Angenommen, die potenzielle Produktion wächst jährlich um 2 Prozent, wird das inflationsbereinigte Real-BIP im kommenden Jahr um 6,8 Prozent steigen. Da die Federal Reserve dieses Jahr ein Wachstum von 7 Prozent erwartet, und 2022 ein solches von 3,3 Prozent, deutet dies darauf hin, dass die USA immer noch zwei Jahre von der Inflationsschwelle entfernt sind.
Diese Schätzung der Produktionslücke kann als entweder zu niedrig oder zu hoch kritisiert werden. Das Zu-Niedrig-Lager argumentiert, die offiziellen Arbeitslosenzahlen – 9,5 Millionen im Juni 2021, verglichen mit 5,7 Millionen im Februar 2020 – unterschätzten die Elastizität des Arbeitsmarktes. Das BLS berichtete im Juni, dass „die Anzahl der nicht beschäftigten Personen, die momentan eine Arbeit haben wollen, bei 6,4 Millionen liegt“, was einer „Zunahme von 1,4 Millionen seit Februar 2020“ entspricht. Berücksichtigt man diese zusätzlichen 1,4 Millionen, steigt die Arbeitslosenquote auf 6,8 Prozent, was eine Produktionslücke von 6,6 Prozent ergibt.
Darüber hinaus ist die Anzahl der aus wirtschaftlichen Gründen teilzeitbeschäftigten Menschen seit Februar 2020 um 229.000 gestiegen. Betrachtet man diese als arbeitslos, steigt die Arbeitslosenquote auf 6,9 Prozent und die Produktionslücke auf 6,8 Prozent. Das BLS veröffentlicht auch eine Schätzung der Anzahl vorübergehend entlassener Arbeitnehmer, die eigentlich als arbeitslos gelten sollten, aber fälschlicherweise als beschäftigt klassifiziert wurden. Bezieht man diese mit ein, steigt die saisonal angepasste Arbeitslosenquote für Juni 2021 auf 7,1 Prozent, was einer Produktionslücke von 7,2 Prozent entspricht.
Plausibles Missverständnis
Aber die Kritiker aus dem Zu-Hoch-Lager bestehen darauf, die Wirtschaft sei nur wenig oder gar nicht elastisch. Sie würden gegen alle drei der beschriebenen Anpassungen der Arbeitslosenquote Einspruch erheben. Warum sollte jemand, der nicht nach Arbeit sucht oder nicht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, zum Arbeitskräftepotenzial gerechnet werden? Teilzeitarbeiter sollten als zeitweise arbeitslos klassifiziert werden. Und sogar das BLS, so geben sie zu bedenken, gibt zu, dass seine Schätzung der „beschäftigten“, vorübergehend freigestellten Arbeitnehmer die Höhe der Fehlklassifikation wahrscheinlich übertreibt.
Darüber hinaus würde dieses Lager behaupten, die natürliche Quote liege wahrscheinlich höher als 3,5 Prozent. Die zu berücksichtigende Schlüsselzahl ist diejenige der unbesetzten Stellen. Im Mai 2021 gab es 9,2 Millionen „gesamte offene Stellen außerhalb der Landwirtschaft“ (entsprechend 5,7 Prozent der Arbeitnehmerschaft), was fast genau der offiziellen Anzahl beschäftigungsloser Menschen entspricht (9,3 Millionen). Außerdem wurde landesweit immer wieder über Unternehmen berichtet, denen es schwerfällt, Arbeitskräfte zu finden, was darauf schließen lässt, dass zwischen Nachfrage und Angebot von Arbeitskräften ein massives Missverhältnis besteht. Ist das effektive Angebot von Arbeit erheblich geringer als das wahrgenommene Angebot, steigt zwingend auch die Quote der natürlichen Arbeitslosigkeit.
Angesichts der Folgen der COVID-19-Pandemie ist ein solches Missverhältnis auf dem Arbeitsmarkt sicherlich plausibel. Im Zuge von Lockdowns und anderen nicht pharmazeutischen Interventionen hat sich die Art der Arbeit dramatisch verändert. In einigen Fällen ist die Arbeit von zu Hause aus nicht annähernd so produktiv wie jene in einem Büro, in einer Fabrik oder an einem anderen Arbeitsplatz außer Haus.
Dauerhafte Rückkehr zur Normalität
Obwohl die meisten offiziellen Restriktionen gegen beschäftigungsrelevante Aktivitäten aufgehoben wurden, wird die vollständige Rückkehr zu vorpandemischen Arbeitsverhältnissen durch Sorgen über Ansteckung mit COVID-19 behindert. Immer noch müssen viele Arbeitnehmer (insbesondere Frauen) wegen Kinderbetreuung zu Hause bleiben. Angesichts beschränkter Möglichkeiten zur Tagesbetreuung bleibt die Teilnahme von Eltern am Arbeitsmarkt begrenzt.
Sicherlich dürfte der Beginn des Schuljahres – unter der Bedingung, dass die Pandemie nicht wieder außer Kontrolle gerät – eine dauerhafte Rückkehr zur Normalität vor der Krise ermöglichen. Aber sogar dann werden sich manche Dinge dauerhaft verändert haben, was bedeutet, dass sich zumindest ein Teil der Missverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt als strukturell bedingt erweist. Ein Teil der neuen Normalität ist insbesondere die schnelle Einführung digitaler Technologien – einschließlich einer wahren Explosion bei der Informationstechnologie und den Fintechs.
Aufgrund dieser neuen Möglichkeiten werden viele Arbeitsplätze – sowohl in der Produktion als auch in den Dienstleistungen – überflüssig. Tatsächlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die Automatisierung bald ihren entscheidenden Durchbruch erreicht. Und obwohl die pandemisch bedingte technologische Revolution zweifellos neue Arbeitsplätze schafft, neigt sie natürlich zu Innovationen, die Arbeit ersetzen und einsparen.
Da es für die pandemiebedingte Automatisierungswelle kein historisches Beispiel gibt, existiert auch keine verlässliche numerische Schätzung ihres Einflusses auf den Arbeitsmarkt. Ich vermute, sie könnte die natürliche Arbeitslosenquote leicht um ein oder zwei Prozentpunkte erhöhen, was mit einer Verringerung der Produktionslücke um zwei bis vier Prozentpunkte einhergeht.
Positiver Arbeitsangebotsschock
Und schließlich muss man sich fragen, ob die finanziellen Anreize das effektive Beschäftigungsangebot verringert haben. Über das erweiterte Arbeitslosengeld hinaus, das im September 2021 endet, gab es auch unterschiedliche Barauszahlungen, darunter zusätzliches Kindergeld. Dies hat das Budget vieler Arbeitnehmer entlastet und es ihnen ermöglicht, bei neuen Beschäftigungsverhältnissen wählerischer zu sein. Das bedeutet aber auch, dass es im September einen positiven Arbeitsangebotsschock geben könnte. Obwohl es an verlässlichen Schätzungen über einen Effekt der „Rückkehr zum Arbeitsmarkt“ mangelt, vermute ich, dass die natürliche Arbeitslosenquote dadurch um 0,5 Prozentpunkte fallen wird, was die Produktionslücke um einen Punkt erhöht.
Unter Berücksichtigung der drei oben genannten „Elastizitäts“-Anpassungen liegt meine vorsichtige Schätzung der Produktionslücke nach dem September 2021 zwischen 1,8 Prozent und 3,8 Prozent, was im nächsten Jahr Raum für ein inflationsbereinigtes Wachstum von 3,8-5,8 Prozent gibt. Aber dieser Spielraum könnte bereits innerhalb eines Jahres erschöpft sein, und dann läuft die Federal Reserve Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
* Willem H. Buiter ist außerordentlicher Professor für Internationale und Öffentliche Angelegenheiten an der Columbia University.
Copyright: Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org
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