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Luxemburgensia„und zerbröselt in vierzig stückchen illusion“: Tom Webers Lyrikband „fluides herz“ erzählt von Zerfall und Neubeginn

Luxemburgensia / „und zerbröselt in vierzig stückchen illusion“: Tom Webers Lyrikband „fluides herz“ erzählt von Zerfall und Neubeginn
Tom Weber Foto: Philippe Bourhis

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Wie eng Auf- und Erlösung zusammenhängen, arbeitet Tom Weber in seinem wundervollen Gedichtband „fluides herz“ heraus. Ein lyrischer Stationsweg in drei Teilen.

Dichtung weist immer ins Wesentliche. Denn die lyrische Form ist eine, die das Prägnante dem Weitschweifigen konsequent vorzieht. Die als ästhetisch durchgeformte Textminiatur das Wichtigste bündelt. Die als Vergrößerungslinse in Aktion tritt, als Destillierapparat, als Druckfeder auch, die bereit ist, ihre ganze aufgestaute Energie bei der Lektüre mit einem Male loszuwerden. Die als mühsam gepflegtes Bonsaibäumchen die Idee des Baums überhaupt in sich trägt und für den kontemplativen Betrachter reflexhaft sichtbar macht.

Dass Dichtung ins Wesentliche weist, ist wahr, und zwar gleich im zweifachen Sinne. Denn wesentlich bedeutet nicht nur entscheidend, sondern auch essenziell: auf das Grundlegende, Absolute, Unverrückbare oder zumindest unverrückbar Scheinende abzielend. Die Doppelsinnigkeit dieses Leitsatzes sollte man sich vor Augen führen, wenn man Tom Webers neu erschienen Lyrikband „fluides herz“ aufschlägt. Die Textsammlung des jungen wie versierten Autors wurde beim Nationalen Literaturwettbewerb 2020 mit dem ersten Platz in der Kategorie der „Schriftsteller*innen unter 25“ ausgezeichnet – und liest sich wie ein dialektisches Spiel mit ebendiesem Gedanken.

Buddhistische Weisheit

Gemäß der dreiteiligen Struktur des Bands stellen die Gedichte das Wesentliche – oder Wesenhafte – am spätmodernen Subjekt infrage, dekonstruieren es und fügen es dann neu zusammen, indem sie es im letzten Schritt unter die Vision eines spirituell-mentalen Erleuchtungs- und Erwachungsprozesses (engl. „Enlightment“) stellen.

Die Synthese bildet so die aus ihren Gegensätzen zusammenlaufende Neudeutung des eingangs erwähnten Grundsatzes: Es ist gerade das flüssige, unstete, veränderliche Nicht-Wesen des Menschen, das seine wahre Essenz konstituiert und ihm somit, wenn er sich seiner unbeständigen Natur bewusst ist, ganz im Sinne der buddhistischen Glaubenslehre Erkenntnis und Freiheit von Leid verspricht: „es ist schlussendlich / das fluide herz / das es uns erlaubt / das leben voll und / ganz zu durchdringen“. Webers Dichtung umrundet somit tiefgreifende philosophische Fragestellungen und poetisiert zugleich die maßgebliche Bedingung für jede menschliche und nicht-menschliche Existenz: ständige und totale Veränderung, die belegt, dass nichts und niemand einen immerwährenden, gleichbleibenden Kern besitzt. Sie thematisiert also, um es in anderen Worten zu sagen, das Wesentliche, zeigt direkt in sein Zentrum hinein, indem sie offenlegt, dass dieses leer ist.

Die innere Leere betäuben

Dass der Subjektstatus des Menschen in der Spätmoderne in besonders hohem Maße unsicher, gefährdet und von einer unentrinnbaren Vorläufigkeit ist, machen die Texte nun in dem ersten Teil „lücke“ unentwegt deutlich. In „kölsche mensch“ zeichnet Weber das Porträt einer einsamen Trinkerin, in deren „milchigen augen“ das lyrische Sprecher-Ich „für einen / moment / das einst erträumte / leben“ zu erblicken glaubt, „von dem nichts / als dieses / simulacrum / übrig blieb“. Mit diesem direkten Verweis auf die Simulationstheorie des poststrukturalistischen Denkers Jean Baudrillard verbindet sich die implizite Aufforderung des Autors an den Leser, sich in Auseinandersetzung mit den entworfenen Textwelten von einem substantialistischen Subjektbegriff zu verabschieden und stattdessen die verschiedenen Figuren in ihrem Auflösungsprozess aufmerksam lesend zu begleiten: „jetzt ergreifen wir das flucht ins fl ui de / dort wo es keine / richtungen gibt / dort wo man sich / auch einfach mal / treiben / lassen / kann“.

Die Texte in diesem ersten Kapitel lassen den Mangel des zur geistigen Heimatlosigkeit verdammten zeitgenössischen Subjekts motivisch hervortreten, seine Flucht in den Konformismus, Materialismus oder die (Selbst-)Destruktion mittels Sex, Rauschmittel oder körperlicher Gewalt werden in wenigen Versen eindrucksvoll skizziert. Dabei beweist der Autor eine unglaubliche Kreativität, was den Umgang mit dem Medium der Schrift angeht: Das als Sujet Besprochene und das Schriftbild sowie die Anordnung der Buchstaben auf der Seite fallen oft auf überraschende Weise in eins; steigt z.B. aus dem Rachen des lyrischen Ichs dumpf eine Stimme „empor“, werden die Buchstaben des zitierten Worts übereinander und nicht linear hintereinander angeordnet. Inhalt und Form befinden sich so nicht nur in einem besonders engen Verhältnis zueinander, die Texte erscheinen als konsolidierte Einheiten ebenfalls ständig bedroht und am Rande der Zersplitterung. Es liegt am achtsamen Leser, die vorhandenen Bruchteile richtig bzw. neu zu kombinieren und somit eben das zu tun, was entlang der Gesamtstruktur des Werks inhaltlich vollzogen wird.

Lichtdurchflutete Lyrik

Nicht zufällig sinkt das lyrische Ich am Ende des als Auftakt zu verstehenden ersten Teils in den mit dem Tod verwandten Schlaf hinab – das Zerrinnen des Bewusstseins im Schlaf deutet auf den gleich darauffolgenden Zerfall des Ichs per se hin. Dieses kathartisch-reinigende, fundamental transformierende Erlebnis („ein wunsch nach dekonstruktion / weil ich endlich wieder bauen will“) wird in „auflösung“ als ein im doppelten Sinne elementarer Prozess imaginiert: Auf die Gedichte „erde“, „wasser“, „feuer“ und „luft“ folgt eine Reihe von Texten, die allesamt um eine zentrale Licht-Metapher rotieren und so das Zerrinnen des Monolith-Ichs als erleuchtet-erleuchtender Entwicklungsweg perspektivieren.

Auf den Mittelteil folgt schließlich „leerheit“: 19 Gedichte, die durch ihren rätselhaft-aphoristischen Charakter an Kōans erinnern. Letztere spielen besonders im Zen-Buddhismus eine bedeutende Rolle und sollen durch ihre Undurchdringlichkleit und ihren paradoxalen Charakter zur Meditation und inneren Einkehr anregen. Die Gedichte, die in „fluides herz“ zu finden sind, zeugen demnach nicht nur von der großen Belesenheit des Autors – es lassen sich auch zahlreiche literarische Referenzen in den Texten finden –, sondern auch von einer philosophisch-spirituellen Bildung, die ironischerweise im Kontrast steht zur im Werk dargestellten geistigen Entwurzelung des Menschen von heute. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Lyrikband „fluides herz“ als ein überaus gut durchdachtes, komplexes, reiches und vor allem wertvolles Werk, das 2020 zu Recht von der Jury gewürdigt wurde und sich als absolutes Highlight unter den diesjährigen Neuerscheinungen herausstellt.