Anna und Julia sollen in weißen Hochzeitskleidern begraben werden. So hat es die Mutter der erst 14-jährigen Zwillinge beschlossen. Die beiden Mädchen waren aus einem als sicher geltenden Dorf für ein paar Tage zu ihrer Mutter nach Kramatorsk gefahren und dort zum falschen Zeitpunkt in der Pizzeria „Ria“. Das unter Soldaten, Journalisten und lokalen Zivilpersonen gleichermaßen beliebte Restaurant wurde am Dienstagabend von einer russischen Iskander-Rakete getroffen. Mindestens elf Personen kamen bei dem russischen Angriff auf das Zentrum der letzten großen Stadt unter Kiewer Kontrolle im Donbas ums Leben.
Die Rettungsarbeiten gingen den ganzen Mittwoch über weiter. „Die Rettungskräfte suchen nach Personen, die sich wahrscheinlich unter den Trümmern befinden“, sagte ein Sprecher des Rettungsdienstes in Kramatorsk. Eine zweite Iskander-Rakete hatte ein nahes kleines und flaches Einkaufszentrum getroffen. „Solcher Terror beweist uns und der ganzen Welt immer wieder, dass Russland für all seine Taten nur eines verdient: Niederlage und Tribunal“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner allabendlichen Videoansprache in der Nacht zum Mittwoch.
Solcher Terror beweist uns und der ganzen Welt immer wieder, dass Russland für all seine Taten nur eines verdient: Niederlage und Tribunal
Bis Mittwochabend wurden über 60 teils schwer Verletzte gezählt. Darunter befindet sich auch der kolumbianische Schriftsteller Hector Abad, der mit einem Parlamentarier und zwei Journalisten von Kiew nach Kramatorsk gereist war, um sich dort rund 20 Kilometer von der Front entfernt ein Bild vom Krieg zu machen. Während der Kolumbianer glimpflich davon kam, kämpfte die ukrainische Journalistin noch am Mittwochabend um ihr Leben. Abad hatte zuvor am Kiewer „Book Arsenal“, der dortigen Buchmesse, teilgenommen. Noch letztes Jahr musste die Buchmesse abgesagt werden.
Ukraine meldet Gebietsgewinne
Von der nahen Frontlinie selbst vermeldete die ukrainische Armee am Mittwoch südlich (bei Berkiwka) und auch nördlich der im Januar von Wagner-Söldnern eroberten Stadt Soledar Gebietsgewinne. Eine Einkreisung von Soledar könnte eine Rückeroberung des südlich gelegenen Bachmut ermöglichen. Die Stadt ist zwar völlig zerstört und entvölkert, doch immer noch ein wichtiges Symbol vor allem für Wladimir Putin. Laut dem russischen Politologen Andrej Piontkowski würde die ukrainische Rückeroberung von Bachmut Jewgeni Prigoschins Behauptung, nur seine Söldner seien den Ukrainern gewachsen, Auftrieb geben. Prigoschin hatte Ende Woche seine Truppen abgezogen und mit einem Marsch von Rostow-am-Don nach Moskau und einen seltsamen Putschversuch unternommen. In einem Interview mit dem polnischen Newsportal onet.pl sieht Piontkowski in der Rückeroberung von Bachmut durch die Ukrainer ein Fanal für den Machtwechsel in Moskau.
Ukrainische Raketeneinschläge wurden in der Nacht auf Mittwoch auch in Melitopol, auf halbem Weg von der Südfront zum Asowschen Meer vermeldet. Einwohner der russisch besetzten Stadt hatten in sozialen Netzwerken sechs Explosionen vermeldet. Laut einer Analyse des britischen Verteidigungsministeriums macht den Russen zudem die Zerstörung der Krim-Brücke bei Tschongar durch einen ukrainischen Präzisionsschlag vor gut einer Woche sehr zu schaffen. So soll der russische Nachschub für die Südfront nun viel längere Zeit in Anspruch nehmen.
Satellitenaufnahmen haben derweil gezeigt, dass die Russen in der Nähe der Krim-Hauptstadt Simferopol wohl schon im März eine neue Militärbasis errichtet haben. Die von London veröffentlichten Aufnahmen zeigen große Treibstofflager und Hunderte von Lastwagen und auch Radpanzer.
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