Sie verließ das Hotel. Es war bereits Nacht. In der Nacht heimzugehen, war besser, denn in der Dunkelheit wurde man weniger leicht gesehen, weder von den Nachbarn noch von der Polizei. Müde schleppte sie sich nach Hause, während sein Lachen in ihrem Kopf widerhallte und sie noch den Geschmack des Schnapses im Mund hatte. Endlich in der Brillstraße angekommen, stieg sie die Stufen zur Wohnung hinauf. Leise begab sie sich zu Bett, um die anderen nicht zu wecken.
Trotz der Müdigkeit konnte sie nicht schlafen. Warum war das Leben so ungerecht? Nach der frühen Scheidung ihrer Eltern war der Vater, ein Grubensteiger, im Ruhrgebiet geblieben, während die Mutter, Tochter eines italienischen Bergarbeiters, nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren Kindern über das lothringische Knutange ins Großherzogtum eingewandert war, zuerst nach Rümelingen, und dann nach Esch. Marias Mutter hatte jahrelang hart gearbeitet, als Stundenfrau und in der Eisenindustrie, auf der Hüttenschlackenmühle in Esch-Lallingen. Zuletzt hatte sie sogar einen kleinen Marktstand betrieben: Im Sommer hatte sie mit Obst und Gemüse gehandelt, im Winter mit Zuckerwaren, bis die Wirtschaftskrise diesem Geschäft ein jähes Ende bereitet hatte.
Neben der harten Arbeit kümmerte ihre Mutter sich zudem fortwährend um Emil, Marias Kind. Besonders, seit sie keine feste Anstellung mehr hatte und Maria jeden Tag nach Nörtzingen ging, wo sie als Hausmädchen arbeitete. Meine Mutter ist eine gute Frau, dachte Maria, auch wenn die Nachbarn etwas anderes sagen. Denn beliebt war ihre Mutter nicht in der Nachbarschaft. Die ganze Familie war das wohl nicht. Ihre Mutter und ihr Bruder fingen immer wieder Streit an, der Bruder vor allem dann, wenn er wieder mal zu viel getrunken hatte.
Und nun sollte ihre Mutter ausgewiesen werden, weil sie Ausländerin war und keinen festen Arbeitsplatz hatte. Wer wird sich dann ums Kind kümmern? Wie kann ich dann noch in Nörtzingen arbeiten und den ganzen Tag von zu Hause wegbleiben? Sieht so meine Zukunft aus? Werde ich meinen Lebensunterhalt als Prostituierte verdienen müssen? Maria sah die sexuellen Dienstleistungen, die sie gelegentlich gegen Bezahlung anbot, nicht als ihre eigentliche Arbeit an. Es war für sie eher ein Zuverdienst. Diesmal wollte sie ihrem Bruder helfen, der kurz vor der Heirat stand. Er war nun schon seit sechs Jahren mit einer Friseurin aus Differdingen verlobt, einer Luxemburgerin. Auch er hatte hart gearbeitet, oder es zumindest versucht, erst als Knecht, dann auf der Escher Hütte Terre Rouge, dann auf der Grube Doihl in Rodingen und schließlich als Kellner bei Doerner in der Otherstraße in Esch. Aber es war nicht leicht, in diesen schweren Zeiten Arbeit zu finden, und so fand er mittlerweile immer nur noch kurzzeitig eine Beschäftigung. Er wohnte jetzt wieder bei der Mutter. Dennoch hatten er und seine Freundin begonnen, Möbel zu kaufen, ein Schlafzimmer, im Hinblick auf ihr gemeinsames Leben. Seine Mutter hatte die Anzahlung geleistet und er war dabei, den Rest beim Verkäufer abzuarbeiten, als Kellner in dessen Hotel, dem Mondorfer Astoria. Doch jetzt sollte auch er ausgewiesen werden.
In einer Zeit, in der es so wenig Arbeit gab, war es für Ausländer schwierig geworden, im Land zu bleiben. Warum ist das Leben so ungerecht?, dachte Maria erneut. Ich kann bleiben, weil ich Luxemburgerin bin, weil ich den Jang geheiratet hab, als ich noch fast ein Kind war, während mein Bruder und meine Mutter wohl bald das Land verlassen müssen. Was wird dann aus mir? Die bezahlten Liebesdienste, so wie heute Nacht, müssten dann womöglich zu ihrer Hauptbeschäftigung werden, denn nur so könnte sie sich tagsüber um ihren Sohn kümmern und nachts arbeiten. Maria war hübsch und Freier waren leicht zu angeln, wenn man wusste, in welchen Bars sie zu finden waren. Natürlich, legal war das Geschäft nicht, aber man konnte gutes Geld verdienen, wenn man vorsichtig war.
„Männer wollen sowieso immer nur das Eine“, hatte ihre Mutter oft zu ihr gesagt. „Wahre Kameradschaft mit einer Frau, das kennen sie nicht.“ Das hatte sich bei Maria eingebrannt. Und auch sie hatte kaum andere Erfahrungen gemacht. Ihr Vater war häufig über Nacht weggeblieben und hatte sich kaum um seine Kinder gekümmert. Genauso hatte es ihr Ehemann und Vater ihres Kindes gemacht. Nun, nach der Scheidung, bekam sie etwas Geld von ihm. Vor Kurzem hatte Maria jemand Neues kennengelernt, den Sohn eines Spirituosenhändlers. Aber bei ihm wohnen wollte sie nicht, obwohl er es angeboten hatte. „Ein Spirituosenhändler! Als würde der nicht mindestens genauso viel saufen“, hatte sie, nachdem er sie gefragt hatte, zu ihrer Mutter gesagt. Maria wollte lieber bei ihr bleiben, als nochmal mit einem handgreiflichen Trinker wie Jang zusammenzuleben. Den Bruder hielt sie gerade noch aus, der tat ja auch ihr und ihrem Kind nichts, nur auf die Mutter war er manchmal wütend, wenn er getrunken hatte. Kürzlich hatte er etliche Möbel zu Hause zerschlagen. Aber wenn er nicht trank, war er vernünftig und ein guter, fleißiger Kerl. Und in seine zukünftige Braut war er wirklich verliebt.
Männer, dachte sie, und langsam lichtete sich das Chaos in ihrem Kopf. Ihr Atem wurde ruhiger. Sie spürte Emil neben sich und hörte die Mutter und den Bruder leise schnarchen. Hoffentlich können sie bleiben!, dachte sie, drückte ihr Kind fest an sich und schlief ein.
Reno
She took off her stockings
I held them to my face
She had your ankles
I felt filled with grace
„Two hundred dollars straight in
Two-fifty up the ass“ she smiled and said
She unbuckled my belt, pulled back her hair
And sat in front of me on the bed
She said „Honey, how’s that feel
Do you want me to go slow?“
My eyes drifted out the window
Down the road below
I felt my stomach tighten
The sun bloodied the sky
And sliced through the hotel blinds
I closed my eyes
(…)
Bruce Springsteen
(from the album „Devils & Dust“, 2005)
© Sony Music Group/Eldridge
Zur Person
Julia Harnoncourt studierte Geschichte an der Universität Wien. Als Historikerin ist sie vor allem an verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit interessiert. Sie verfasste etliche Artikel im Bereich der Arbeitsgeschichte, zur Migration und Kolonialismus. Ihr letztes Buch „Befreiung der Frau. Texte zur Geschichte eines weltweiten Kampfes“ erschien 2021 im Promedia Verlag. Auch sozial setzt sie sich unter anderem als Vorstandsmitglied des Wiener Vereins „Vielmehr für Alle“ für Geflüchtete ein. Zurzeit arbeitet sie am C2DH an der Universität Luxemburg am Esch2022-Projekt „Remixing Industrial Pasts in the Digital Age“. Die Ausstellung zum Projekt ist noch bis zum 15. Mai in der Massenoire auf Esch-Belval zu sehen.
This Hard Minett Land
Von März bis Oktober 2022 laden das Tageblatt, das Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH) und capybarabooks die LeserInnen jeden Freitag zu einer besonderen Entdeckungsreise durch Luxemburgs Süden ein. Rund vierzig SchriftstellerInnen und HistorikerInnen lassen sich von Bruce Springsteens Songs inspirieren und schreiben Texte über das luxemburgisch-lothringische Eisenerzbecken, „de Minett“, sowie über diejenigen, die dort geboren oder dorthin eingewandert sind, dort gelebt, gearbeitet, geliebt, geträumt, gehofft, gekämpft, Erfolg gehabt oder versagt haben. Begleitet werden die Texte in deutscher, englischer, französischer und luxemburgischer Sprache von Illustrationen des Luxemburger Künstlers Dan Altmann. Im Herbst erscheinen sämtliche Texte und Zeichnungen dann versammelt in Buchform bei capybarabooks. Bis dahin heißt es: „Son, take a good look around/this is
your … Minett Land!“
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