Nach dem Einmarsch türkischer Truppen und ihrer Verbündeten in das Kurdengebiet Afrin im Nordwesten Syriens berichten Helfer von einer dramatischen humanitären Lage. Besonders stark betroffen sind Kinder, Frauen und Ältere. Tausende seien in den vergangenen Tagen «verzweifelt und in Panik» aus Afrin geflohen, twitterte der Regionaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Robert Mardini, am Dienstag. Sie hätten keine Unterkunft sowie kaum Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung.
Die UN meldeten, rund 100.000 Menschen seien in der Region bereits seit längerem auf der Flucht. Bis zu 50.000 weitere seien in den vergangenen Tagen hinzugekommen.
Luftangriff auf Schule: 16 Kinder tot
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR war zugleich alarmiert über die sich verschärfende humanitäre Krise im belagerten Rebellengebiet Ost-Ghuta nahe der Hauptstadt Damaskus. Dort kamen am Montagabend bei einem Luftangriff auf eine Schule 16 Kinder und vier Frauen ums Leben, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete. Wie auch Hilfsorganisationen macht sie die russische Luftwaffe für die Bombardierung der von Rebellen kontrollierten Stadt Irbin verantwortlich. Russland ist im syrischen Bürgerkrieg ein wichtiger Verbündeter der Regierung von Machthaber Baschar al-Assad.
Als erste führende Koalitionspolitikerin bezeichnete die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles das türkische Vorgehen in Nordsyrien als «völkerrechtswidrig». Die designierte SPD-Vorsitzende forderte die Bundesregierung auf, «hier entsprechende Maßnahmen einzuleiten». Welche Maßnahmen sie meint, blieb unklar. Auch Unions-Fraktionschef Volker Kauder zeigte sich «entsetzt» über die Berichte aus Afrin. «Menschenrechtsverletzungen sind nicht hinnehmbar», sagte der CDU-Politiker in Berlin.
Die Türkei ist wie Deutschland Nato-Mitglied. Die Bundesregierung hat sich zu der Frage, ob die Offensive völkerrechtswidrig ist, bisher nicht festgelegt. Das Thema dürfte auch an diesem Mittwoch im Bundestag bei der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der folgenden Debatte zur Sprache kommen.
Die türkischen Streitkräfte und syrische Verbündete hatten die vor allem von Kurden bewohnte Region Afrin und die gleichnamige Stadt im Nordwesten Syriens am Sonntag nach zweimonatigen Kämpfen erobert. Die türkische Regierung stuft die Kurdenmiliz YPG wegen ihrer Verbindungen zur PKK als Terrororganisation ein und bekämpft sie.
UNHCR: Schulen und Moscheen mit Vertriebenen überfüllt
Bei den meisten Vertriebenen aus Afrin handele es sich um Frauen, Kinder und Ältere, teilte das UN-Nothilfsbüro Ocha mit. Es gebe besorgniserregende Berichte über Gewaltandrohung, willkürliche Festnahmen von Zivilisten sowie Plünderungen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erklärte, Menschen hätten berichtet, sie seien auf der Flucht über viele Stunden durch die Berge gelaufen. Schulen und Moscheen seien völlig mit Vertriebenen überfüllt.
Die Menschenrechtsbeobachter und Kurden hatten am Montag über Plünderungen protürkischer Rebellen in Afrin berichtet. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu schloss eine Beteiligung von Soldaten seines Landes aus. Auch der verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) traue er ein solches Verhalten nicht zu. «Wenn es von dort eine Beschwerde oder Forderung kommen sollte, werden wir das penibel untersuchen, da sind wir empfindlich», sagte er.
Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef brauchen 100 000 Menschen aus Afrin dringend Hilfe, die Hälfte davon Kinder. Das IKRK meldete am Dienstag, ein Hilfskonvoi habe den von Kurden kontrollierten Ort Tal Rifat erreicht. Dort haben nach UN-Angaben mindestens 75 000 Vertriebene aus Afrin Zuflucht gefunden.
Türkei weist Kritik zurück
Die Türkei wies Kritik des IKRK scharf zurück. Äußerungen des IKRK-Präsidenten Peter Maurer seien «fern von der Wahrheit und inakzeptabel», teilte das Außenministerium mit. Maurer hatte mehr Zugang für internationale unabhängige Organisationen gefordert. In diesem Zusammenhang kritisierte er den türkischen Roten Halbmond und sagte, die Glaubwürdigkeit der Aussage, dass dieser mit der kurdischen Bevölkerung in Afrin zusammenarbeite, sei «nahezu null».
Auch aus Ost-Ghuta bei Damaskus flohen dem UNHCR zufolge in den vergangenen Tagen 45 000 Menschen. «In den Auffanglagern kommen Tausende Familien völlig erschöpft, hungrig, durstig und krank und praktisch ohne Hab und Gut an», sagte UNHCR-Sprecher Andrej Mahecic. «Jeden Tag werden es mehr.» Die Auffanglager seien völlig überfüllt, vor den Toiletten seien stundenlange Wartezeiten nötig.
Das von Regierungstruppen belagerte Gebiet Ost-Ghuta erlebt seit rund einem Monat die schwerste Angriffswelle seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor rund sieben Jahren. Dabei wurden nach Angaben der Menschenrechtsbeobachter fast 1500 Zivilisten getötet. Mittlerweile haben Regierungstruppen den größten Teil Ost-Ghutas eingenommen.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können