Spionage scheint immer noch das Normalste der Welt zu sein. Geheimdienste können selbst in Friedenszeiten Abermillionen Datensätze ausländischer Bürger klauen, mit Satelliten fremde Staaten willkürlich ausspähen, Botschaften im Ausland in Spionagezellen verwandeln, Handys von Staats- und Regierungschefs knacken, Spione «neutralisieren» … Vieles ist möglich und alles scheint erlaubt zu sein – solange man unter «Freunden» ist. Der Fall des Doppelagenten Sergej Skripal zeigt, dass Spionage und das (versuchte) Töten von Spionen leider gängige Praxis sind. Ob Vorgänge aus der Spionage-Welt jedoch öffentlichkeitswirksam an eine Eskalationsstrategie gekoppelt werden, hängt wiederum vom politischen Kontext und dem damit verbundenen Propagandabedürfnis ab.
Mehrere Fragen werden deshalb in der aktuellen Hysterie ausgeklammert: Verstößt Spionage eigentlich gegen das Völkerrecht und ab wann sowie zu welchem Zweck wird die Kritik am Töten von Spionen medienwirksam inszeniert? So viel vorweg: Der versuchte oder gelungene Mord an einem Spion ist, unabhängig vom Motiv, nicht zu rechtfertigen. Der Fokus soll jedoch bei den vorliegenden Überlegungen nicht verzerrt werden. Denn der Kampf um die Deutungshoheit im Fall Skripal wirkt absurd. Lässt man die letzten Wochen Revue passieren, ergibt sich ein komplexes Bild. Es streiten sich die Weltmeister der Verstöße gegen das Völkerrecht über fehlende Beweise und Vermutungen. So nebenbei: Das Völkerrecht wird meist nur dann verteidigt, wenn es realpolitischen Eigeninteressen dient. Besonders die Amerikaner, Briten, Franzosen und Russen belehren sich seit Jahren im Syrien-Krieg gegenseitig, welch moralisch überlegene Musterschüler sie in Sachen Völkerrecht sind – und verdeutlichen der Weltöffentlichkeit, dass ihre verlogenen Doppelstandards leider das Normalste der Welt sind …
Und auf genau diesen Doppelstandards fußen staatliche Spionageaktivitäten. Selbst aus der Sicht des Völkerrechts ist Spionage ein flexibel auslegbares Phänomen. Es handelt sich, trägt man den vielen Interpretationen Rechnung, um einen Akt in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität. Ein zentraler Widerspruch lässt sich nicht überwinden: Während es die Spionage bereits lange vor dem Kalten Krieg gab und sie eines der ältesten und schmutzigsten Gewerbe der Menschheitsgeschichte ist, basiert das Völkerrecht auf der fortschrittlichen Idee einer gemeinsam erarbeiteten friedensstiftenden Weltordnung. Diese konträren Prinzipien – Verrat und Täuschung vs. Menschlichkeit und Anstand – können nur gemeinsam funktionieren, weil der moralische Relativismus akzeptierte Grundvoraussetzung unserer internationalen Ordnung ist. Vereinfacht ausgedrückt: Eine an nationalen Interessen orientierte Realpolitik bleibt bis auf Weiteres Trumpf.
Der Fall Skripal ist somit – unabhängig vom genauen Tatverlauf – Ausdruck unserer nationalstaatlichen Weltordnung, die durch ihre Wettbewerbsbesessenheit Staaten dazu treibt, Spionage als zentrales Instrument zu nutzen, um sich politisch, wirtschaftlich und in Sicherheitsfragen Vorteile zu verschaffen. Dass gerade ein Repräsentant dieses die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tretenden Berufsstandes nun zum Märtyrer erkoren wird, um die vermeintliche moralische Überlegenheit des Westens zu beschwören, führt am Ende nur zu einem: Die von der EU und Großbritannien vorangetriebene Dämonisierung von Russlands Präsident Wladimir Putin wird ihn im Kreml weiter stabilisieren. So spielen sich Gegner in die Hände.
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