Im Ukraine-Krieg wächst die Sorge vor der Zerstörung eines Staudammes mit möglicherweise katastrophalen Folgen für den Süden des Landes. Der von der Regierung in Moskau eingesetzte Verwalter der umkämpften Region Cherson wies am Freitag ukrainische Vorwürfe zurück, russische Einheiten hätten den Kachowka-Staudamm und das zugehörige Wasserkraftwerk am Fluss Dnipro vermint. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Donnerstag erklärt, Russland bereite damit „den nächsten Terror-Angriff“ vor. Er verglich eine mögliche Sprengung mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Bereits am Dienstag hatte wiederum der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine, Sergej Surowikin, erklärt, die Ukraine bereite einen Angriff auf den Damm vor. Auch er warnte vor einem Desaster.
Der 30 Meter hohe und mehr als drei Kilometer breite Kachowka-Damm wurde 1956 gebaut und ist unter russischer Kontrolle. Das Reservoir versorgt die von Russland 2014 annektierte Halbinsel Krim mit Wasser, wie auch das besetzte AKW Saporischschja. Eine Sprengung des Staudamms dürfte große Teile der Region Cherson unter Wasser setzen.
Laut Selenskyj sind 80 Ortschaften in Gefahr
Selenskyj sprach von 80 Ortschaften – darunter die Stadt Cherson selbst –, die nach einer Zerstörung des Dammes überflutet werden würden. Er verwies in seiner Ansprache auch auf die Bedeutung der Anlage für die Versorgung der Krim: Eine Sprengung wäre ein Eingeständnis Russlands, dass es die Halbinsel nicht halten könne, sagte er. Der von Russland eingesetzte Vize-Verwalter von Cherson, Kirill Stremusow, sagte der staatlich kontrollierten russischen Nachrichtenagentur RIA am Freitag, Selenskyjs Vorwürfe seien falsch. Die jeweiligen Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.

Die Kontrolle über Cherson bietet Russland eine Landverbindung zur Krim. Eigenen Angaben zufolge treiben die ukrainischen Streitkräfte seit Wochen ihre Offensive gegen russische Truppen in der Region voran. Es habe heftige Kämpfe im Bezirk Beryslaw gegeben. Cherson gehört neben Luhansk, Donezk und Saporischschja zu den vier Regionen, die Russland Ende September annektiert hat. Die Annexion wird international nicht anerkannt. Russland hat angesichts des ukrainischen Vorstoßes die Bewohner der Stadt aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen. Bis zu 60.000 Menschen sollten in den kommenden Tagen nach Russland gebracht werden.
Moskau will aus Cherson eine „Festung“ machen
Moskau ist nach eigenen Angaben dabei, Cherson zu einer „Festung“ auszubauen. Die die Stadt besetzt haltenden russischen Truppen bereiten sich demnach auf ihre Verteidigung gegen die vorrückende ukrainische Armee vor, schrieb der Vertreter der pro-russischen Verwaltung der Region, Kirill Stremussow, am Freitag im Onlinedienst Telegram. Zuvor hatte Stremussow ukrainischen Truppen die Tötung von vier Zivilisten vorgeworfen. Die Ukraine wies dies zurück.
Nach Angaben der Ukraine sind seit der vergangenen Woche 88 Städte und Dörfer in der Region Cherson zurückerobert worden. „Region Cherson: 88 Orte befreit“, erklärte der stellvertretende Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Kyrylo Timoschenko, in Onlinediensten. Vergangene Woche hatte Kiew bereits die Rückeroberung von 75 Ortschaften in der Region gemeldet.
Die Ukraine zog am Freitag Bilanz der anhaltenden russischen Angriffe auf die Energieversorgung des Landes. Energieminister Herman Haluschtschenko zufolge wurden in den vergangenen Tagen bis zu 40 Prozent des Stromnetzes getroffen. Dadurch sei die Stromgewinnung eingeschränkt worden, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. „Mindestens die Hälfte der Wärmekraft-Produktionskapazität, sogar mehr“ seien ausgefallen. Möglicherweise werde die Ukraine Strom zukaufen müssen, um durch die Krise zu kommen. Einige Händler hätten bereits Gespräche mit Lieferanten aufgenommen, sagt der Energieminister. Selenskyj hatte am Donnerstag erstmals seit dem russischen Einmarsch Ende Februar landesweite Beschränkungen für die Stromnutzung verhängt. (Reuters, AFP)
Ein Telefonat, immerhin
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur RIA mit seinem US-Kollegen Lloyd Austin telefoniert. Dabei sei über die Ukraine und Fragen der internationalen Sicherheit gesprochen worden, meldet die russische Agentur. Austin habe bei dem Gespräch am Freitag „die Bedeutung einer Beibehaltung von Kommunikationswegen inmitten des andauernden Kriegs gegen die Ukraine hervorgehoben“, erklärte das US-Verteidigungsministerium. Es war das zweite Gespräch zwischen Austin und Schoigu seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar. Das letzte Gespräch der beiden Minister fand am 13. Mai statt.
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