Headlines

Warum ich? – Wenn Eltern ein Kind verlierenSelbsthilfegruppe bietet Austausch mit Betroffenen

Warum ich? – Wenn Eltern ein Kind verlieren / Selbsthilfegruppe bietet Austausch mit Betroffenen
Marie-Jeanne Schon (62) ist Trauerbegleiterin und selbst betroffene Mutter  Foto: Editpress/Didier Sylvestre

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Wenn Eltern ein Kind verlieren, ist dies ein traumatisches Erlebnis,  das sie lebenslang begleitet. Die Trauer bleibt und regiert über weite Strecken das Leben. Als Marie-Jeanne Schon (62) vor 25 Jahren ihren damals 13-jährigen Sohn verliert, wendet sie sich an die „Weesen-Elteren“. Mittlerweile begleitet die Familientherapeutin ehrenamtlich verwaiste Eltern in dieser Selbsthilfegruppe.

Tageblatt: Was bedeutet Trauerbegleitung für Eltern, die ein Kind verloren haben?

Marie-Jeanne Schon: Ein offenes Ohr haben, den Betroffenen mit all ihren Gefühlen zuhören, sie begleiten in dem, was sie erleben und durchleben. Die „Weesen-Elteren“ sind eine Selbsthilfegruppe. Das heißt, die Unterstützung kommt von den anderen Eltern, die das Gleiche erleben oder erlebt haben.

Eltern sind nach dem Tod ihres Kindes oft sehr alleine. Die „Weesen-Elteren“ zeigen, dass sie das nicht sein müssen …

Der Tod eines Kindes macht anderen Angst. Viele Eltern fühlen sich in ihrem Umfeld alleingelassen, weil Freunde, Bekannte nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Die Erfahrung, dass es auch anderen so geht, stützt und ist eine große Hilfe.

Wenn Eltern ein Kind verlieren, begraben sie ihre Zukunft …

Das stimmt. Beim Tod eines Kindes geht etwas nicht in der richtigen Reihenfolge. Eltern verlieren einen Teil ihrer Zukunft. Der Sinn unserer Begleitung ist es, zu zeigen, dass nicht die ganze Zukunft weg ist und dass es eine andere Zukunft gibt – mit der Erinnerung an das tote Kind. Ich glaube, Eltern, die ein Kind verloren haben, denken täglich auch an dieses Kind.

Viele Eltern glauben nach dem ersten Schock, nicht mehr weiterleben zu können …

Das sagen viele betroffene Eltern. Es gibt bei den „Weesen-Elteren” welche, die schon länger betroffen sind, und welche, die gerade erst ihr Kind verloren haben. Dass es ein Leben danach gibt, zeigen die Eltern, die schon länger dabei sind. Sie zeigen den Blick auf die Zukunft und können erzählen, wie es ist. Wie es ihnen ergangen ist, wie schwierig es war und was geholfen hat. Die Rolle der Begleiterin dieser Gruppe ist der Wunsch, da zu sein für die anderen und zu zeigen, dass es nach diesem Schicksalsschlag weitergehen kann.

Nach dem Tod eines Kindes ist das Gleichgewicht der Familie aus dem Lot …

Es gibt einen Bruch. Es gibt die Familie vor dem Tod des Kindes und es gibt die Familie nachher. Nach dem Tod ist das ganze Familiengefüge durcheinander. Den Eltern geht es nicht gut, den Geschwistern geht es nicht gut und die Großeltern sind ja auch betroffen. Die Familie muss wieder ein Gleichgewicht finden. Das sieht immer anders aus als das vorige.

Was hilft?

Nicht jedem hilft das Gleiche. Das ist sehr individuell. Manche möchten das eher mit sich allein ausmachen. Andere haben ein großes Bedürfnis, nach außen zu gehen und darüber zu sprechen. Von dem Kind, von dem Leid, das sie erfahren haben. Ich glaube, es ist wichtig, herauszufinden, was die betroffenen Eltern brauchen, um zu helfen.

Sind Selbsthilfegruppen der geschützte Raum, wo Eltern Zeit mit ihrem verstorbenen Kind verbringen können?

Das sagen viele Eltern nach einer gewissen Zeit bei uns. Das Leben geht weiter und Eltern machen die Erfahrung, dass das Thema nach Monaten oder Jahren für Außenstehende nicht mehr aktuell ist. Für die Eltern aber bleibt es ein tägliches Thema. Viele Eltern, die schon lange zu uns kommen, sagen, „heute Abend habe ich Zeit für mein totes Kind“.

Leiden Eltern, die ihr Kind bei einem Autounfall verloren haben, anders als Eltern, die einen langen Krankheitsweg mit ihrem Kind hinter sich haben?

Die Trauer nach dem Verlust ist immer die gleiche. Eltern haben ja die Utopie, dass man sein Kind immer und ewig schützen kann. Aber natürlich stellen sie sich Fragen. Die, die sich alle stellen, ist: Warum ich? Warum passiert mir das? Und hätte ich nicht … Darauf gibt es leider keine Antwort.

Außenstehende haben Schwierigkeiten, mit Schicksalsschlägen wie diesen umzugehen …

Der Tod eines Kindes ist immer noch ein Tabu. Gerade verwaiste Eltern aber brauchen ein Umfeld, wo sie als solche wahrgenommen werden. Ich nenne es „Mitaushalten“. Das ist es, was sie im Freundeskreis brauchen. Nicht weglaufen oder wegschauen.

Viele trauen sich aber nicht, überhaupt darüber zu reden …

Die Hemmschwelle ist da. Aber gerade, wenn darüber gesprochen wird, zeigt es den Eltern, dass das Kind nicht vergessen wird, dass es noch präsent in Köpfen der anderen ist. Viele Eltern sind eher traurig darüber, dass nicht oder nicht mehr darüber gesprochen wird. Ich habe in den 25 Jahren noch keine Eltern erlebt, die es nicht als entlastend empfinden, wenn jemand sie auf den Verlust ihres Kindes anspricht.

In Veröffentlichungen wird Trauer in Phasen eingeteilt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Nicht ganz. Diese Einteilung hat eine lange Geschichte. In den 60er Jahren hat als erste Elisabeth Kübler-Ross den Trauerprozess in verschiedenen Phasen beschrieben. Wir wissen heute, dass das alles viel fließender ist. Was immer da ist, ist der Schockzustand und das Zweifeln, die Erfahrung von Unwirklichkeit, Depression und irgendwann ein Aussteigen und Zuwendung auf eine neue Zukunft.

Für Trauer gibt es also keine Standards?

Ganz sicher nicht. Trauer ist individuell und keine Krankheit. Man sucht es sich ja nicht aus, es übermannt einen.

Welche Bedeutung hat der 1. November für Eltern, die ein Kind verloren haben?

Es ist der Tag, an dem man als Eltern eines verstorbenen Kindes wahrgenommen wird. Der Tag, an dem man sich als Familie am Grab zusammenfindet. Es ist ein Tag zum Trauern, aber auch der Erinnerung an das Kind. Dieses Jahr wird es ganz speziell, weil es keine Gräbersegnung gibt.

Weesen-Elteren

Marie-Jeanne Schon (62) hat in Paris Psychologie studiert und Zusatzausbildungen als Psychotherapeutin (Brüssel) und Trauerbegleiterin (Hamburg). Sie lebt in Luxemburg-Stadt und ist Mutter von drei Kindern. Ihr Sohn ist 1995 im Alter von 13 Jahren an Krebs gestorben. Ehrenamtlich begleitet sie zusammen mit drei anderen ebenfalls betroffenen Eltern andere, die ebenfalls ihr Kind verloren haben, bei den „Weesen-Elteren“. Die Selbsthilfegruppe kommt ein Mal im Monat zusammen. Daneben gibt es gemeinsame Veranstaltungen. Informationen gibt es auf www.croix-rouge.lu/de/service/weesen-elteren-selbsthilfegruppe-fur-eltern-in-trauer/, per Tel. 691 90 13 21 oder per E-Mail an: weesen.elteren@croix-rouge.lu.