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BrüsselSchuldzuweisungen nach Schiffsunglück: Bei der Migration liegen in der EU die Nerven blank

Brüssel / Schuldzuweisungen nach Schiffsunglück: Bei der Migration liegen in der EU die Nerven blank
Menschen warten auf ihren Verwandten, der den Schiffbruch überlebt hat, vor dem griechischen Migrantenlager in Malakasa, in der Nähe von Athen, am 16. Juni 2023 Foto: AFP

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Schon beim Gipfel blockierten Polen und Ungarn ein Einvernehmen zum künftigen Umgang mit Migranten, nun versuchten EU-Parlament und EU-Kommission, die Hintergründe des verheerenden Schiffsunglücks vor Griechenland zu klären – und endeten in lautstarkem Streit.

Die amtierende Ausschusschefin hat an diesem Donnerstag im Brüsseler Europa-Parlament Mühe, die erhitzten Gemüter zu bändigen. „Es hilft nicht, wenn wir uns hier gegenseitig anschreien“, ruft die deutsche Sozialdemokratin Birgit Sippel in den Saal. Soeben haben sich die niederländische Abgeordnete der Volt-Partei, Sophie in’t Veld, und die französische Abgeordnete der Republikaner, Nadine Morano, auf wüsteste Weise beschimpft, die Fäuste auf die Pulte geschlagen. Eigentlich wollte der Innenausschuss des Parlamentes nur die Hintergründe und Umstände des verheerenden Schiffsunglücks vor der griechischen Küste drei Wochen zuvor klären.

Doch nicht nur in dieser Passage der Sitzung zeigt sich, wie aufgeladen die Stimmung beim Thema Migration ist.

„Es gibt viele Fragen, die offen sind“, sagt zum Auftakt EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Diese Tragödie sei nach der Zahl der Toten einzigartig. Genau wissen es die Behörden nicht. Sie gehen davon aus, dass am 14. Juni rund 400 bis 700 Menschen an Bord eines kaum seetüchtigen Schiffes waren, als dieses an einer der tiefsten Stellen des Mittelmeeres sank. Für die meisten kam die Hilfe durch acht oder neun herbeigeeilte Schiffe und zwei Hubschrauber zu spät. 110 Überlebende wurden gezählt, mit bis zu 600 Toten wird gerechnet. Das kann niemanden kaltlassen. Und so geht auch die Kommissarin das Thema mit Gefühl an, versucht sich vorzustellen, wie die Menschen erst durch die Wüste wandern und dann „eingesperrt in einer Blechkiste ohne Fenster“ zu Tode kommen.

Weitere Mosaiksteine – und viel Schweigen

Durch die Fragen der Abgeordneten liefern Johansson und der Exekutivdirektor der Frontex-Grenzschutzagentur, Hans Leijtens, dann doch noch eine Reihe weiterer Mosaiksteine zu den Umständen der Katastrophe. Dass Frontex das Schiff entdeckte, den griechischen Behörden meldete, den Beobachtungsflieger aber bald zu einem anderen Rettungseinsatz bringen musste, Stunden später bei der Rückkehr schon nur noch das sinkende Schiff vorfand. Dass die besser zahlenden Passagiere auf Deck bleiben konnten, die übrigen ins Innere des Schiffes mussten. Dass das Schiff zuvor von Ägypten aus nach Libyen gebracht worden war. Dass inzwischen neun Schmuggler festgenommen worden sein sollen.

Das Schiff vor seinem Untergang
Das Schiff vor seinem Untergang Foto: AFP/Griechische Küstenwache

Die Berichte in den Medien über mögliche andere Details machen die Kommissarin „sehr besorgt“. Doch zu den Inhalten sagt sie nichts. Nichts zu den Spekulationen, die griechischen Behörden würden Fakten verschleiern, nichts zu den Behauptungen, die griechische Küstenwache habe das Schiff an die Leine genommen und es damit in die instabile Lage gebracht, also direkt oder indirekt das Kentern zu verantworten. Nichts zu der offiziellen Lesart aus Athen, man habe das Schiff zu stabilisieren versucht.

Die Abgeordneten formulieren es schärfer in ihren Fragen. Ob die griechischen Behörden Handys von Überlebenden zerstört und deren Aussagen verfälscht hätten? Ob die traumatisierten Überlebenden nicht besser von anderen Ländern aufgenommen werden sollten? Ob die Kommission wirklich nichts tun könne, weil ihr die Zuständigkeit fehle, wo sie doch auf so vielen anderen Feldern immer einen Weg finde? Ob angesichts der „Lügen“ der griechischen Behörden der Druck auf eine unabhängige Untersuchung erhöht werden müsse? Ob Griechenland Frontex wiederholt gebeten habe, auf Meldungen über Vorkommnisse zu verzichten?

Großbritannien: Lords strafen Regierung wegen Migrationsgesetz ab

Die konservative Regierung in Großbritannien hat mit einem Gesetzesvorhaben zur Abschreckung irregulärer Einwanderer eine Rekordzahl an Abstimmungsniederlagen im Oberhaus erlitten. Die auch als Lords bezeichneten Parlamentarier überstimmten die Regierung von Premierminister Rishi Sunak mit insgesamt 20 Änderungen an dem „Illegal Migration Bill“ genannten Gesetzesvorhaben – so viele wie bei keinem je zuvor. Ein Regierungssprecher sagte am Donnerstag, man stehe zu dem Gesetzentwurf in seiner ursprünglichen Fassung. Das geplante Gesetz sieht vor, dass Menschen, die irregulär nach Großbritannien einreisen – beispielsweise in kleinen Booten über den Ärmelkanal – damit ihren Anspruch auf Asyl verwirkt haben. Sie sollen direkt in Haft genommen und abgeschoben werden können, ohne dass ihnen in Großbritannien die Gelegenheit gegeben wird, Asyl zu beantragen.
Die Änderungen der Lords betrafen unter anderem den Umgang mit Minderjährigen. Zudem erlegten sie der Regierung auf, reguläre Wege zur Einreise für Asylsuchende zu schaffen und eine langfristige Strategie zu entwickeln, um Fahrten über den Ärmelkanal mit kleinen Booten zu verhindern. (AFP)

Es gibt dazu ausweichende Antworten, aber auch andere Zahlen. Sippel verweist darauf, dass seit Jahresanfang bereits 4.000 Menschen auf der Flucht nach Europa gestorben seien, die meisten auf dem Meer. Leijtens spricht davon, dass Frontex allein in diesem Jahr bereits „20.000 Leben gerettet“ habe, erwähnt die Weiterleitung von 52 Notrufen und den Start von 228 Notrettungsoperationen. „Ich ertrage die Krokodilstränen nicht mehr“, sagt Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst. Seit 2014 seien allein im Mittelmeer bereits 27.000 Menschen gestorben. Und die von den niederländischen Liberalen zu Volt gewechselte in’t Veld attackiert frontal: „Alle“ seien für die vielen Toten verantwortlich, „auch die Kommission, auch Frontex“.

Daraufhin meldet sich die Französin Morano zu Wort, erklärt, dass das Mittelmeer „nicht nur ein Meer, sondern auch ein Friedhof“ sei. Sie verweist darauf, dass 80 Prozent derjenigen, die ankämen, junge Männer seien. Und formuliert dann die Gegen-Anklage: „Ich überlasse es der Linken, diese makabre Verantwortung zu übernehmen, Anreize zu geben, damit die Migranten in See stechen.“ Und fügt dann noch hinzu: „Und auch die makabere Verantwortung für die Morde auf dem europäischen Hoheitsgebiet.“

Das gegenseitige Anschreien beginnt

Da entsteht starke Unruhe im Saal. Das gegenseitige Anschreien beginnt, als der republikanische Abgeordnete Milan Uhrik aus Tschechien sagt, die Katastrophen zeigten „dass wir die Migranten stoppen müssen“. Man spreche hier von einem Schiffsuntergang, „aber es gibt auch andere Tragödien“, meint er – und verweist auf die Unruhen in Frankreich, wo Tausende Gebäude angezündet würden und Zehntausende Menschen litten. „Das ist auch eine Folge von illegaler Migration“, ruft Uhrik. „Das ist Rassismus“, schreit in’t Veld. Es würden wiederholt falsche Verbindungen hergestellt. Daraufhin ruft Morano: „Unter den in Frankreich Verhafteten sind 400 Ausländer, jetzt sagen Sie mir nicht, dass es da keine Verbindung gibt!“

Sippel bittet um Ruhe. Es sei eine Position geäußert worden, es gelte jedoch festzustellen, dass „nicht alle Migranten Verbrecher“ seien. Die Sozialdemokratin unterstreicht, dass dies keine Wahlkampfveranstaltung sei, sondern das Europäische Parlament. Vielleicht aber hat an diesem Donnerstag der Wahlkampf um das Thema Migration auch im Europäischen Parlament begonnen.

Niederlande: Koalition könnte über Migration auseinanderbrechen

Die Koalition des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte könnte Medienberichten zufolge an einem Streit über das Thema Migration auseinanderbrechen. Der öffentlich-rechtliche Sender NOS berichtete am Donnerstag, der „Fall des Kabinetts scheint nicht mehr weit entfernt zu sein“ und fügte hinzu, dass Rutte „auf Kollisionskurs“ mit anderen Koalitionsparteien sei.
Die Koalitionsparteien hätten sich am Mittwoch getroffen und würden am Donnerstagabend erneut zu Gesprächen zusammenkommen, hieß es nach Angaben mehrerer niederländischer Medien. Am Freitag könnte es demnach zu einer Abstimmung im Ministerrat kommen.
Wie andere europäische Länder auch, ringen die Niederlande mit der Frage, wie sie mit der Vielzahl an Migranten in dem Land umgehen sollen. Nachdem die Mitte-rechts-Partei VVD des Regierungschefs strenge Regeln für Asylbewerber vorgeschlagen hatte, sei es zu Dringlichkeitsgesprächen mit den Koalitionspartnern gekommen, berichteten mehrere örtliche Medien.
Rutte hatte gedroht, die VVD aus dem Kabinett abzuziehen, wenn die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen nicht verabschiedet würden. Dies würde das Ende der Regierung und vermutlich Neuwahlen bedeuten, wie NOS berichtete. Konkret fordert Rutte, die Familienzusammenführung für Kriegsflüchtlinge zu erschweren. (AFP)

JJ
7. Juli 2023 - 8.55

Polen und Ungarn. Wie lange noch?