Die Konservativen werden auf ihrer Jahresversammlung ihre Premierministerin vorführen, aber nicht stürzen. 52 Prozent der Briten würden heute gegen den Brexit stimmen.
Von unserem Korrespondenten Gabriel Rath, London
Theresa May hat keine Chance. Die britische Premierministerin geht am Sonntag in den Parteitag ihrer Konservativen unter Feuer von allen Seiten. In den eigenen Reihen gibt es militanten Widerstand gegen ihren Brexit-Plan: «Chequers ist so tot wie der Dodo», ein im 17. Jahrhundert ausgestorbener Vogel, sagt der Abgeordnete Mike Penning, der vor zwei Jahren noch federführend an Mays Aufstieg zur Regierungschefin beteiligt gewesen war.
Theresa May hat eine goldene Chance. Sie wird von allen Seiten kritisiert: der EU, der eigenen Partei und der Opposition. Aber niemand hat bisher einen Alternativvorschlag zu ihrem Plan vorgelegt. «Chequers ist nicht tot», erklärte denn auch Innenminister Sajid Javid diese Woche. Ein ehemaliger britischer Diplomat sagt: «Vielleicht bin ich naiv. Aber die Tatsache, dass ihr Vorschlag sowohl von links als auch von rechts zerrissen wird, lässt mich glauben, dass sie vielleicht nicht ganz falsch liegt.»
Schwerstarbeit für May
Davon die Delegierten des Parteitags der Konservativen in den kommenden vier Tagen zu überzeugen, wird für May allerdings Schwerarbeit werden. Bis zu 11.000 Delegierte werden zu der Konferenz in Birmingham, der größten Stadt der englischen Midlands, erwartet.
Liebling der Basis ist Ex-Außenminister Boris Johnson, der sich seit seinem Ausscheiden aus der Regierung im Juni zum Wortführer der Brexit-Hardliner aufgeschwungen hat. Pünktlich vor Parteitagbeginn ließ er gestern in einem Zeitungsbeitrag («Mein Brexit-Plan») eine neuerliche (Nebel-)Bombe fallen und forderte ein Freihandelsabkommen nach dem Beispiel Kanadas anstatt des Chequers-Plan. Neben großer Worte – Chequers sei eine «moralische und intellektuelle Demütigung» – enthält Johnsons Artikel freilich nichts Neues.
Damit ist Johnson nicht allein. Die Veröffentlichung eines Positionspapiers der Brexit-Hardliner rund um den Abgeordneten Jacob Rees-Mogg musste peinlicherweise zurückgezogen werden. Wie sich immer mehr herausstellt, ist das Einzige, was die Gruppe einigt, die blinde Ablehnung der EU. Von Fakten will man seine Weltsicht möglichst wenig stören lassen.
Daran wird sich auch am Parteitag nichts ändern, den May mit ihrer Grundsatzrede am Mittwoch beenden wird. Wichtiger als das Getöse der Brexit-Hardliner wird es für sie sein, ihre Regierung auf Linie zu halten. Auch hier liegen die Nerven blank. Nach jüngsten Berichten tragen führende Kabinettsmitglieder wie Brexit-Minister Dominic Raab, Innenminister Javid und Umweltminister Michael Gove Mays Position nicht mehr mit, dass es nur die Wahl zwischen dem Chequers-Plan und einem No-Deal-Brexit gebe. Gove spricht offen davon, Großbritannien nach dem EU-Austritt im Europäischen Wirtschaftsraum gemeinsam mit Island, Liechtenstein und Norwegen «zu parken».
Labour könnte May aus der Patsche helfen
Gerade in Birmingham werden derartige Positionen, die eine weitere möglichst unveränderte Teilnahme Großbritanniens an EU-Zollunion und -Binnenmarkt vorsehen, nicht unbeachtet bleiben. Die Stadt befindet sich im Zentrum der britischen Autoindustrie, für die ein harter Brexit eine «existenzielle Gefahr» (so Land Rover/Jaguar-Chef Ralph Späth) darstellt. «Die Konservativen können es sich nicht erlauben, als Jobvernichter dazustehen», sagt der Politikprofessor Amand Menon. Die Angst zeigt mittlerweile Wirkung: Nach einer Auswertung der aktuellen Umfragen durch die Nachrichtenagentur Reuters würden heute 52 zu 48 Prozent der Briten für den Verbleib in der EU stimmen.
Rettung aus der Quadratur des Kreises versprach May diese Woche ausgerechnet die oppositionelle Labour Party. «Wenn Sie ein Verhandlungsergebnis vorlegen, das einen Verbleib in der Zollunion und keine harte Grenze in Irland vorsieht und das Arbeitsplätze schützt, werden wir einen derartig vernünftigen Deal unterstützen», wandte sich Parteichef Jeremy Corbyn direkt an die Premierministerin. Die Konservativen wiesen dies erwartungsgemäß zurück. Doch wo die radikale Linke und die rabiate Rechte vereint gegen ein sanftes EU-Abkommen stehen, könnten sich in der Mitte Kräfte der Vernunft besinnen. Dafür brauchen die Anhänger eines weichen Brexit wie etwa Schatzkanzler Philip Hammond die EU. May hat von der Union nach der Abfuhr von Salzburg gereizt einen Gegenvorschlag als Ausweg aus der «Sackgasse» gefordert, der bis zum nächsten Gipfel im Oktober erwartet wird. Zugleich wird sie in Birmingham wohl wiederholen, womit sie diese Woche vor Wirtschaftsvertretern in New York warb: «Wir werden das Land mit den niedrigsten Steuern und den geschicktesten Vorschriften sein.» Mit einem Wort: Singapur an der Themse soll Wirklichkeit werden.
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