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ForumSäbelgerassel führt nicht zu einer kollektiven Sicherheit

Forum / Säbelgerassel führt nicht zu einer kollektiven Sicherheit
Aus Angst vor einer russischen Invasion haben sich in den letzten Wochen Dutzende von Zivilisten den Armeereserven der Ukraine angeschlossen Foto: dpa/Efrem Lukatsky

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Auf der schwedischen Insel Gotland patrouillieren seit einigen Tagen schwer bewaffnete Soldaten. Die im baltischen Meer gelegene Insel, etwas größer als Luxemburg, aber nur von 60.000 Menschen bewohnt, soll laut der schwedischen Regierung vor einem russischen Überfall geschützt werden.

So weit hat sich die Kriegshysterie in Europa schon entwickelt, dass das neutrale Schweden, Nicht-Mitglied der NATO, seine militärischen Muskeln zeigt, um angeblich Putins Russland vor einem Überfall auf Gotland abzuhalten. Doch weshalb sollte der böse Putin ausgerechnet Gotland erobern? Um was zu erreichen? Die russische Flagge auf die UNESCO-geheiligte Stadtmauer der Inselhauptstadt Visby zu hissen?

In der schwedischen Presse gab es viel Kopfschütteln über die demonstrative Verlegung schwedischer Truppen nach Gotland. Ein bekannter Journalist meinte, es sei ein Versuch der schwedischen Armee, ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen. Unterstützt von der auf neue Aufträge erpichten schwedischen Rüstungs-Industrie.

Das nutzlose Waffengeklirr auf Gotland ist bloß ein kleiner Widerhall der gesamteuropäischen Kriegsrhetorik, welche im Gefolge der Ukraine-Krise den alten Kontinent befallen hat.

Wie zu den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges zwischen West und Ost ist der dominierende Diskurs wieder rein binär. Die Guten gegen die Bösen. Wobei sich als Bösewicht Wladimir Putin aufdrängt, nicht gerade ein astreiner Demokrat.

Aber sind auf Seiten der Guten nur untadelige Demokraten? Etwa NATO-Partner Erdogan aus der Türkei? Oder die Regierungschefs Ungarns oder Polens? Und andere halbseidene Präsidenten oder Premierminister ehemaliger Volksrepubliken, die ohne Anstrengung vom Kommunismus zum Populismus wechselten?

Kriege wurden ungewinnbar

Putin wird vorgeworfen, er habe massiv Truppen entlang der Grenze mit der Ukraine aufgeboten. Die rund 100.000 Soldaten stehen in manchen Fällen gut 1.000 Kilometer von ihrem angeblichen Einfallgebiet entfernt. Aber auch die NATO verlegte Truppen in den Osten Europas und damit an die Grenzen Russlands. Etwa in die baltischen Staaten, wo selbst Luxemburg mit einer symbolischen Einheit Löwenflagge zeigt. Vor allem haben die USA ballistische Raketen in Polen und Rumänien stationiert. Angeblich gegen Iran gerichtet. Aber näher am russischen Territorium als von einem eventuellen Kriegsschauplatz im persischen Raum.

Laut dem britischen Historiker Eric Hobsbawn bewiesen die letzten Jahrzehnte, die vermeintliche erste Welt könne zwar noch Schlachten, aber keine Kriege mehr gewinnen. Wovon Afghanistan, Irak, Syrien oder Libyen zeugen. Oder vorher Korea und Vietnam. Hehre Ziele wie „Frieden“ und „Sicherheit“ sind nur gemeinsam zu realisieren. Mit angeblichen „Freunden“ wie vorgeblichen „Feinden“. Wer Frieden und Sicherheit will, muss die Interessen der Gegenseite berücksichtigen.

Nach der Implosion der UdSSR und ihrer Satelliten-Staaten hätten die USA als unangefochtene Supermacht die Möglichkeit gehabt, Europa eine definitive Friedensordnung zu geben. Der totale Zusammenbruch des Kommunismus entzog der NATO eigentlich ihre Existenzgrundlage.

Sowohl US-Präsident George Bush wie sein Außenminister James Baker, als auch Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher rangen Gorbatschow die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung mit der Zusicherung ab, die NATO würde die legitimen russischen Sicherheitsinteressen wahren. James Baker am 9.2.1990: „Das Bündnis wird nicht einen Inch nach Osten ausgedehnt.“

Aus den „Inches“ wurden tausende „Miles“. Die USA fuhren fort mit ihrer „Containment“-Politik. Praktisch alle Staaten des früheren Warschauer Paktes sowie ehemalige Sowjet-Republiken wie die baltischen Staaten fanden „Schutz“ unter der US-geführten NATO. Mit der angestrebten NATO-Eingliederung der Ukraine sowie Georgiens würden die Amerikaner de facto bis ins Herz der russischen Föderation vorstoßen. Von Moskau aus gesehen eine tödliche Gefahr. Von Napoleon bis Hitler waren die ukrainischen Ebenen immer das Einfallstor zu Überfällen auf Russland.

Putin ist ein Autokrat, nicht zimperlich mit Oppositionellen. Doch besitzt er das Vertrauen einer Mehrheit seiner Bevölkerung. Weil er nach den chaotischen Jelzin-Jahren, während denen mehrere Tausend Oligarchen die „demokratische Transition“ zur Ausplünderung des russischen Volksvermögens nutzten, wieder für „Ordnung“ und die Zahlung von Löhnen und Renten sorgte. Sowie den nationalen Stolz wieder herstellte.

Die nationalistische Versuchung

Alle Völker sind leider so gebaut. Die Amerikaner, die mit Trump „greath again“ werden wollten; die brexitierten Briten, die weiterhin von ihrer „imperialen Größe“ träumen; die Franzosen, welche an die „spécificité française“ glauben. Selbst die Luxemburger pflegen ihre Besonderheit „op Lëtzebuergesch“: „Let’s make it happen“!

„Le nationalisme, c’est la guerre“, warnte Mitterrand vor dem Europäischen Parlament. In dem heute mehr „nationalistische“ Abgeordnete sitzen als je zuvor. Wem nützt das um sich greifende Kriegsgeschrei? Zuerst der Rüstungs-Industrie. Die USA haben für 2022 mit einem Militär-Budget von 768 Milliarden $ einen neuen Rekord gesetzt. Rund 40% der weltweiten Militär-Ausgaben. Zählt man noch die Budgets der NATO-Staaten hinzu, sowie die der vielen „Freunde Amerikas“, von den Saudis bis hin zu Korea und Japan, dann übertrifft das „freiheitliche“ Waffenarsenal 80% der weltweiten Militär-Ausgaben. China mag zwar an zweiter Stelle für Rüstung stehen, Russland an 5. oder 6. Stelle. Doch die volkswirtschaftlichen Kapazitäten der Amerikaner liegen um 30% höher als diejenigen der Chinesen. Übertreffen gar um 90% diejenigen der Russen.

Die USA sind und bleiben der weltweit größte Waffenhändler. Die eine „russische Aggression“ fürchtenden Polen kauften für 15 Milliarden $ 32 US-Fighter, 250 Abrams-Panzer sowie Patriot-Raketen. Die Ungarn zahlten eine Milliarde $ für US-Raketen. Selbst kleinere Staaten wie die Slowakei kauften für 800 Millionen $ US-Kampfflieger. Angeblich um ihre „Sicherheit“ zu garantieren.

Die massive Aufrüstung der letzten Jahre scheint das „Sicherheits-Gefühl“ in allen Teilen Europas nicht verstärkt zu haben. Hört man die um sich greifende Kriegsrhetorik. In ihrem Werk „War“ schreibt die kanadische Historikerin Margeret MacMillan, „Krieg wird wahrscheinlicher, weil er als ernsthafte Möglichkeit in Betracht gezogen wird.“ Deshalb liegt Außenminister Jean Asselborn goldrichtig, wenn er dafür plädiert, die NATO dürfe sich nicht einer „Kriegs-Logik“ verschreiben, sondern müsse auf Diplomatie setzen.

Russen wie Amerikaner nützen ihre Waffen-Systeme, um Druck auszuüben. Beide Seiten glauben, mit militärischer Muskel-Protzerei ihre Verhandlungspositionen zu verstärken. Die Europäer sollten sich dieser kriegerischen Hochschaukelei widersetzen. Das „Haus Europa“ kann nur über politische Lösungen für ein besseres Zusammenleben gewahrt werden. Die Zeit ist reif für eine neue „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ auf dem Kontinent.

* Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter

iunverzagt
8. Februar 2022 - 17.47

Ich lese Ihre Artikel im Tageblatt. Aber selten war ich so einverstanden wie mit diesem! ???

D.W.
1. Februar 2022 - 7.53

Dieser Artikel zu lesen ist eine Wohltat für Augen und Verstand, sachlich, fundiert und vor allem objektiv verfasst! Und hebt sich damit sehr wohltuend von den zum Teil schon hetzerisch verfassten Artikel in all den Medien ab! Es bleibt zu hoffen, dass das für Herrn Goebbels nicht die selben Folgen hat wie für Herrn Vizeadmiral a.D. Kay Achim Schönbach und die Kritiken seit ein paar Tagen an den Bundeskanzler a.D. Gerd Schröder.
Vielen Dank an das TAGEBLATT für die Möglichkeit meine Meinung zu äußern.