Eine 100-prozentige Wahlbeteiligung meldet die Zentrale Wahlkommission in Moskau, und die Vorsitzende sagt dazu, ganz im Ernst, das Wahlsystem in Russland sei „offen und transparent, es ist unmöglich, etwas zu verbergen“. In Moskauer U-Haft-Anstalten ist dieses System offenbar so ausgeklügelt, dass jede und jeder, die dort einsitzen, ihre Kreuze gemacht haben. Es machen mussten. Andere Wahlbezirke vermeldeten dann doch eine kleinere Zahl der an der Abstimmung Beteiligten, für das Gesamtergebnis spielt es allerdings keine Rolle.
Bei den dreitägigen Regionalwahlen quer durchs Land kamen die Kandidaten der Regierungspartei „Einiges Russland“ in nahezu jeder Region auf Zustimmungswerte zwischen 70 und 86 Prozent. Für den Kreml sind solche Zahlen beruhigend, zeigen sie doch in den Augen der Führung, dass das Volk hinter dem Kurs von Präsident Wladimir Putin steht. Einem Kurs, der einen Krieg zur treibenden Kraft der Politik gemacht hat und davon nicht abweicht. Mag da in einigen Regionen auch nur jeder Fünfte überhaupt abgestimmt haben. Das Plebiszit ist dennoch geglückt, der Kreml legitimiert mit dem erneuten Bestätigungsritual seine Macht.
Russland hat also gewählt, Gouverneure, Bürgermeister, Lokalabgeordnete. Nur als Wahl lässt sich die Farce, die mit Sowjetschnulzen in den Wahllokalen und Geldpreisen bei elektronischem Abstimmen für die nötigen Zahlen sorgte, nicht bezeichnen. Beim Wahlspektakel wurde die Politik vollkommen herausgehalten, sie ist ohnehin nur noch ein Verwaltungsakt – mit dem Ziel, die politische Landschaft so hinzubekommen, wie der Herrscher im Kreml sie sich wünscht. Bei einer Wahl geht es längst nicht mehr darum, politische Stimmungen abzubilden, sondern vielmehr um die Fähigkeit zu demonstrieren, wie gut sich die Bevölkerung kontrollieren lässt. Die Menschen sind in einem System, das jegliches Engagement von unten sofort abzuwürgen weiß, ohnehin müde gemacht worden und haben sich damit abgefunden, dass jegliche Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Kaum einer glaubt ernsthaft daran, dass eine Wahl etwas ändern werde im Land.
In Moskau war das Konterfei des Bürgermeisters, der zur Wahl angetreten war, gar nicht erst irgendwo abgedruckt. „Stimmen Sie ab, machen Sie mit bei ,Millionen von Preisen’“ hieß es überall. Wofür es die „Millionen von Preisen“ gab und worüber abgestimmt werden sollte, wurde nicht gesagt. Manchen in der Hauptstadt war überhaupt nicht klar, dass Wahlwochenende war. Sie feierten in den Parks das Stadtfest, die längsten Schlangen gab es bei den kostenlosen Fahrgeschäften für die Kinder. Vor den Wahllokalen hingegen fanden sich über Stunden hinweg nur vereinzelte Wähler. Sergej Sobjanin, Putins loyaler Technokrat, der gern neue Metro-Stationen eröffnet und Parks aufhübschen lässt, hat auch so seine 76,3 Prozent der Stimmen geholt, die meisten über die elektronische Stimmabgabe. Bei dieser Abstimmung wurde sie flächendeckend eingesetzt. Etwaige Manipulationen lassen sich auf diesem Wege kaum nachvollziehen.
Gratis-Zigaretten
In vielen Regionen meldeten die Menschen, die auf dem Papier wählen wollten, sie würden zum Wählen an den Automaten regelrecht gedrängt. Abgestimmt wurde zuweilen – wie so oft bei Wahlen in Russland – an Bushaltestellen, auf Baumstämmen oder einfach im Kofferraum eines Autos. Manchmal brachten die Behörden die Wahlberechtigten direkt in die Wahllokale. „Dafür gab es sogar Zigaretten umsonst“, erzählten sie dann bereitwillig vor Fernsehkameras. Auch in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten holte „Einiges Russland“ bei den Scheinwahlen die Mehrheit.
Die Abstimmung war ein Probelauf für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr. Ein Test, was bei einem solchen Spektakel eventuell noch nachgebessert werden könnte. Sowohl beim sogenannten Wahlkampf als auch bei der Mobilisierung der Menschen an die Urnen und dem Auszählen der Stimmen. Lediglich in zwei Regionen zog die oppositionelle Partei „Jabloko“, die offen gegen den Krieg eintritt, in die Stadtparlamente ein.
Unabhängige Beobachter fehlten überall fast ganz. Dem Vorsitzenden der bekanntesten russischen Wahlbeobachterorganisation „Golos“ wird seit kurzem – wegen „Extremismus“ – in Moskau der Prozess gemacht. „Golos“ beschrieb die Regionalwahlen als die unfreiesten in der Geschichte Russlands, seit Putin an der Macht ist. Andere politische Beobachter bezeichneten sie als die langweiligsten seit Jahren. „Demonstriert wurde bei dieser Wahl-Imitation die totale Liebe zu einem Menschen und die totale Abwesenheit von Zweifel“, sagte der Journalist Kirill Martynow von Nowaja Gazeta Europa.
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