Sie sagt, sie hatte den Kontakt zur Musik verloren. Und manchmal habe sie Zweifel, ob sie das Musizieren noch kann und drauf hat. Die Frage kann nunmehr eindeutig mit Ja beantwortet werden, da mit „Inside The Old Year Dying“ (10 Punkte) Polly Jean Harveys neues Studioalbum vorliegt. Darauf zeigt sich die 53-jährige Künstlerin aus Dorset in Höchstform.
Sieben Jahre sind seit ihrem letzten regulären Album „The Hope Six Demolition Project“ vergangen. Harvey war seitdem alles andere als untätig. Erst war sie auf Welttournee, dann gastierte sie in dem John-Parish-Song „I’m Sorry For Your Loss“, eine Hommage an den 2010 verstorbenen Sparklehorse-Frontmann Mark Linkous. Anfang 2019 wurde auf der Berlinale der Dokumentarfilm „A Dog Called Money“ gezeigt, für den Regisseur Seamus Murphy Harvey beim Komponieren und bei den Aufnahmen der „The Hope Six Demolition Project“-Songs begleitet hatte. Zudem schrieb sie Musik für die TV-Serie „The Virtues“ und die Bühnenadaption von „All About Eve“, den 1950 erschienenen Film von Joseph L. Mankiewicz. Im April 2022 veröffentlichte sie ihren Gedichtband „Orlam“ und arbeitete danach mit Tim Phillips am Soundtrack für die Serie „Bad Sisters“.
Und nun: „Inside The Old Year Dying“, erschienen auf dem englischen Indielabel Partisan Records, der Heimat von Idles, Fontaines D.C. und John Grant. Laut Harvey handeln die Songs „von der Suche, der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung“. Diese hat sie anscheinend auch wieder in ihrer Musik gefunden. Die Leidenschaft, die Intensität, die Dramatik, also all das, was ihre Musik schon in jungen Jahren auszeichnete, ist präsent. Es ist kein rebellisches, wildes Album geworden. „Inside The Old Year Dying“ ist erhaben, experimentierfreudig und spannend. Harvey hat zu sich selbst zurückgefunden. Die Inspiration für neue Musik fand sie wieder, indem sie Lieblingssongs anderer Künstler (Nina Simone, The Stranglers) spielte. Und dank des Filmemachers Steve McQueen, der zu ihr sagte: „Polly, du musst aufhören, über Musik zu denken, als ginge es nur um Alben mit Liedern. Du musst darüber nachdenken, was du liebst. Du liebst Worte, du liebst Bilder und du liebst Musik.“
Der ewige Nick Drake
Der englische Singer-Songwriter Nick Drake konnte nur drei Alben veröffentlichen, ehe er am 25.11.1974 26-jährig an einer Überdosis verstarb. Doch seine Lieder – nachzuhören auf „Five Leaves Left“ (1969), „Bryter Layter“ (1971) und „Pink Moon“ (1972) – hallen bis heute nach. Das hat er u.a. mit Tim Buckley (Überdosis mit 28 Jahren) und dessen Sohn Jeff Buckley, der mit 30 Jahren im Mississippi ertrank, gemein.
Nun haben zahlreiche Künstler ganz unterschiedlicher Couleur Drakes Songs für das Tributalbum „The Endless Coloured Ways: The Songs Of Nick Drake“ gecovert. Zusammengestellt wurden diese von Cally Callomon, der Managerin von Drakes Nachlass, und Jeremy Lascelles von Chrysalis Records. Ihnen ging es darum, dass jeder das Original neu und auf ganz eigene Weise interpretiert. Fontaines D.C. haben das Akustikstück „Cello Song“, im Original mit Akustikgitarre, Bongos und Streichern, in ihren Postpunk-Kosmos entführt. Ihr Produzent und Elbow-Frontmann Guy Garvey hat mit dem Komponisten und Produzenten Mike Lindsay die Pianoballade „Saturday Sun“ mit Bläsern, Electro und Loungepop umgesetzt. PJ Harveys Kollaborateur John Parish hat mit der Singer-Songwriterin Aldous Harding „Three Hours“ in eine Psychedelic-Pop-Perle verwandelt. Und Feists Interpretation der Akustikballade „River Man“ könnte ohne weiteres von ihrem jüngsten Album „Multitides“ stammen. Insofern ging der Wunsch von Callomon und Lascelles in Erfüllung: Nick Drakes Ideen wurden für „The Endless Coloured Ways“ auf zeitgenössische Art umdekoriert und erinnern an einen großen, viel zu früh verstorbenen Songschreiber.
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