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LebensendePhilosophische und soziologische Betrachtungen zur Palliativmedizin und -pflege

Lebensende / Philosophische und soziologische Betrachtungen zur Palliativmedizin und -pflege
Palliativmedizin und Palliativpflege bestehen aus mehr als nur Händehalten. Beide sind ganzheitlich ausgelegt. Foto: Robert Kneschke/Fotolia

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Der griechische Philosoph Aristoteles definierte das „gute Leben“ als das Ziel menschlichen Handelns. Das Ziel von Palliativmedizin und -pflege ist eine hohe Lebensqualität für die Sterbenden. 

Eine Zeit lang galten das Sterben und der Tod als Tabu, zumindest in einer Gesellschaft, die von Anti-Aging und Jugendwahn geprägt ist. Doch mittlerweile wird zunehmend offen und selbstverständlich darüber diskutiert, wie ein Mensch sterben möchte und wie lange ein todkranker Mensch noch am Leben erhalten werden soll.

Einerseits ist es heute möglich, das Lebensende sehr lange hinauszuzögern: Wenn zum Beispiel schwerstkranke Bewohner eines Pflegeheimes noch in eine Klinik gebracht werden, um das schließlich unabänderliche Lebensende mit den Mitteln der modernen Hochleistungsmedizin noch hinauszuschieben. Der Berliner Arzt und Hospizleiter Michael de Ridder etwa verlangt in einem Interview mit dem Magazin Geo (2013) ein Umdenken. Nicht die Lebenserhaltung müsse Maßstab des ärztlichen Handelns sein, sondern das Wohl des Patienten. Was auch Sterbehilfe mit einschließe.

Sterbeverzögerung statt Lebensverlängerung

Das Sterben habe in unserer Gesellschaft „seine Natürlichkeit verloren“, sagt De Ridder. Es gehe oftmals nicht mehr um eine sinnvolle Lebensverlängerung, sondern um eine „Sterbeverzögerung“. In der Tat ist die Hochleistungsmedizin etwa sinnvoll, wenn es darum geht, einen erkrankten Menschen oder ein Unfallopfer zu retten und ihm die Chance zu geben, wieder gesund zu werden. In dieser Hinsicht erweisen sich etwa ein Defibrillator, künstliche Ernährung oder auch künstliche Beatmung als wertvoll. „Aber genau die gleichen technischen Hilfsmittel verlängern bei einem sterbenskranken 85-Jährigen die Qual oft nur unnötig“, stellt De Ridder fest. „Arzt und Medizin sind nicht dazu da, das Sterben schlechthin zu verhindern (…), sondern vorzeitiges und qualvolles Sterben zu verhindern. Ersteres leistet beispielhaft und in zahllosen Fällen die Intensivmedizin, Letzteres die Palliativmedizin.“

Das Sterben wird nicht oder zu selten als Teil des Lebens betrachtet. Untersuchungen haben ergeben, dass viele Menschen mit dem Begriff „palliativ“ nichts anfangen können. Eine Studie des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes aus dem Jahr 2017 ergab etwa, dass ein Viertel der Teilnehmer einer Umfrage den Begriff nicht kannte. Auch daraus lässt sich schließen, dass das Lebensende in unserem Alltag kaum eine Rolle spielt, obwohl es so allgegenwärtig ist. Dabei verfügen gerade die Palliativmedizin und die Palliativpflege über Möglichkeiten und Mittel, sterbende Patienten so zu behandeln, dass sie eine umfassende Schmerz- und Symptomlinderung erfahren. Der ärztliche Auftrag ist demnach, nicht nur Krankheiten zu heilen und das Leben zu erhalten, sondern Schmerzen zu lindern und für ein gutes Sterben zu sorgen. Also sowohl Kuration als auch Palliation.

Letztere tritt ein, wenn das Leben nicht mehr zu retten ist – oder wenn der Patient klar den Willen äußert, mit Hilfe einer Patientenverfügung. Allgemein bedeutet dies auch ein Wandel der Medizin, und auch der medizinischen Ausbildung von einer kurativen Medizin hin zu einer mehr pflegenden Medizin. Dieser Wandel geht einher mit der demografischen Entwicklung in Europa hin zu einer zunehmenden Zahl von pflegebedürftigen Menschen, die zwar zumeist nicht mehr gesund werden, aber mit medizinischer Hilfe noch weiterleben. Und die weiterhin ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. In der Palliativmedizin werden Menschen mit fortschreitender Erkrankung bis zu ihrem Tod betreut und ihre Lebensqualität dabei bestmöglich erhalten. Dabei sind oft intensive Gespräche zwischen Arzt und Patient notwendig.

„Würdevolles Sterben“

„Den Satz ‚Wir können nichts mehr für Sie tun‘ gibt es in der Palliativmedizin nicht. Wenn andere Fachdisziplinen an ihre Grenzen stoßen, geht es bei uns erst richtig los“, wird Sven Gottschling, Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes, in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft vom 7. Dezember 2020 zitiert. In dem Artikel wird auf Studien der Internationalen Universität von Katalonien in Barcelona verwiesen, denen zufolge „vor allem eine fehlende Schmerzkontrolle sowie die schädlichen Nebenwirkungen bestimmter Therapien und eine kognitive Beeinträchtigung durch Medikamente mit einem ‚würdelosen Tod‘ gleichgesetzt werden“. Ein „würdevolles Sterben“ hingegen würde bedeuten, dass dem Sterbenden zum Beispiel noch erlaubt wird, ihm wichtige Dinge zu klären und in den letzten Stunden nicht allein zu sein.

Was für Menschen ein „gutes Sterben“ bedeutet, hat eine Studie der Ludwig-Maximilian-Universität Münden unter Leitung des Soziologen Armin Nassehi herausgefunden: „Die normative Idee, dass Menschen sich mit ihrem Leben auseinandersetzen, Bilanz ziehen und aktiv Abschied nehmen. Dass sie also bewusst sterben, das Lebensende möglichst sogar positiv annehmen und darüber kommunizieren können“. Früher prägte vor allem in religiöser Sicht die Hoffnung auf das „ewige Leben“ oder „ein Leben nach dem Tod“ den Umgang mit dem Sterben, also in christlicher Sicht der Übergang zu Gott, indem der Mensch im Tod zu seiner endgültigen Daseinserfüllung kommt, dem „ewigen Leben“ (mit Hilfe von geistlichem Beistand, Gebeten, Fürbitten oder gar Ablass); heute geht es vor allem darum, den Menschen das Sterben zu erleichtern. Dabei hat sich der Umgang mit dem Sterben historisch gewandelt. „Die Menschheitsgeschichte hat sich immer mit dem Tod beschäftigt, das tut sie heute überhaupt nicht mehr“, konstatiert Nassehi. „Sie beschäftigt sich mit dem Sterben, das ist was völlig anderes.“

Nachdem der Umgang mit Sterbenden früher in eine „organisatorische Unsichtbarkeit“ abgeschoben worden sei, geht es mit dem Konzept der palliativen Pflege um eine umfassende Betreuung sterbender Patienten – und zwar sowohl medizinisch und psychisch als auch sozial und spirituell. Nassehi spricht von einer „Ars moriendi“, einer „Kunst des Sterbens“, und davon, „wie Sterben gelingen kann“. Der Soziologe verweist darauf, dass dies sich aus der religiösen Tradition entwickelt hat und „in das Säkulare rübergerettet“ wurde. Und worin besteht diese Kunst? Vor allem aus den Gesichtspunkten „bewusstes Sterben, versöhntes Sterben, gefasst, ruhig, eins mit sich. Und vor allem mit einer Versöhnung mit Menschen und auch mit Gott.“ Der Grundgedanke der Palliativversorgung ist demnach, dass alle in den Sterbeprozess eines Menschen eingebundenen Akteure diesem das „gute Sterben“ ermöglichen. Das Sterben müsse zu einer „ganzheitlichen Sache“ gemacht werden, forderte einst die britische Ärztin, Krankenschwester und Sozialarbeiterin Cicely Saunders (1918-2005), die Begründerin der modernen Hospizbewegung, der „Palliative Care“ und damit auch die Pionierin der Palliativmedizin.

An diesem Prozess soll auch der Sterbende selbst mitwirken können, so Saunders. Und auch Nassehi betont, dass der Wille des Sterbenden im Mittelpunkt der Sterbebegleitung stehe. Er solle mitreden und seine Bedürfnisse äußern und sein Schicksal annehmen. Der Soziologe nennt dies einen „sprechenden Patienten“ und einen „mündigen Moribunden“. Spricht man jedoch vom Tod, dann gehört dazu auch die Angst vor dem Tod, die jeder Mensch mehr oder weniger hat. „Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst“, schreibt der Philosoph Martin Heidegger, und der Tod ist das Unverfügbare schlechthin“, so die Philosophin und Journalistin Svenja Flaßpöhler im Philosophie Magazin. „Er lässt sich nicht berechnen, nicht erforschen, nicht aus der Welt schaffen, und so zielen die Anstrengungen der säkularisierten Wissensgesellschaft auf seine weitestgehende Verdrängung.“ Nicht zufällig geben viele Menschen in Umfragen an, dass sie möglichst sterben möchten, ohne es zu merken.

Die Angst vor dem Tod

„Gestorben wird“, so schreibt auch Flaßpöhler, „für das Gros der Bevölkerung weithin unsichtbar, hinter den Mauern von Krankenhäusern und Hospizen, das Problem der Endlichkeit entsprechend der Theologie und der Medizin überlassen.“ Der Tod ist meistens der Tod der anderen; auch wenn es den „schönen Tod“ gibt, auf Griechisch „Euthanasie“ genannt, tritt er ebenso brutal wie zwangsläufig in die menschliche Existenz. In Kunst, Literatur und Musik spielt der Tod seit jeher eine bedeutende Rolle und wurde nicht selten personifiziert – als Skulptur, auf Gemälden, als Totentanz, ausdrucksstark, ob unheimlich und dunkel oder einfach als ein Licht. Vor allem in der Philosophie des Existenzialismus wird der Tod als Sinnstifter betrachtet: „Nur wer das Nichts in das Sein hineinnimmt, findet mit größtmöglicher Klarsicht seinen Weg“, so Flaßpöhler. Sie zitiert den Existenzphilosophen Martin Heidegger, der in seinem berühmten Werk „Sein und Zeit“ (1927) die Grundlage für eine positive Sicht auf den Tod schuf. Denn die Angst geht tiefer als die „Furcht vor dem Ableben“. Zu existieren bedeutet, der Möglichkeit des eigenen Todes ständig ausgesetzt zu sein. Und Jean-Paul Sartre, von Heidegger inspiriert, schreibt in „Das Sein und das Nichts“ (1943), dass das genuin menschliche Wissen um die Möglichkeit des Nichtseins uns die Fähigkeit zur „Negation“ und damit auch zur absoluten Freiheit führt.

Durchweg im positiven Sinne ist auch die Palliativmedizin zu sehen, die dem sterbenden Menschen am Ende ihres Lebens mehr Lebensqualität zu geben versucht. Der Begriff ist übrigens auf das lateinische Wort „pallium“ für Mantel zurückzuführen: Dem Patienten wird ein schützender Mantel um die Schultern gelegt.


Plan zum Lebensende

„Wir müssen die Tabus rund um dieses heikle Thema brechen“, sagte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) anlässlich der Vorstellung des Nationalen Plans zum Lebensende und zur Palliativpflege 2023-2026 am vergangenen Freitag. Dieser sieht Maßnahmen zur Aufklärung über die Möglichkeiten – und über die Rechte von Patienten – am Lebensende in puncto Palliativpflege und Euthanasie vor. Außerdem soll der Plan die Qualität der Pflege und der Sterbebegleitung sowie die Koordination zwischen allen Beteiligten wie etwa Ärzten und Pflegekräften verbessern – und nicht zuletzt dabei helfen, das Tabu um das Lebensende zu brechen. Dabei steht der Wille des Patienten im Mittelpunkt. Der von Paulette Lenert, Familien- und Integrationsminister Max Hahn und Jean-Claude Schmit, Direktor der Santé, vorgestellte Plan wurde von den genannten Ministerien und Experten der im Bereich der Palliativpflege und Sterbebegleitung tätigen Organisationen ausgearbeitet. Unverzichtbare Partner sind vor allem die Organisation „Omega 90“ sowie „Mäi Wëlle, mäi Wee“.
Zu den im Nationalen Plan genannten Maßnahmen gehören unter anderem eine Sensibilisierungskampagne, Weiterbildungen für das Personal im Bereich der Palliativpflege, der verbesserte Zugang und die Zulassung von Medikamenten – etwa ein auf Midazolam basierendes Arzneimittel – zur Sedierung und Schmerzlinderung auf dem hiesigen Markt. Nicht zuletzt zielt der Plan darauf ab, die Kohärenz und Durchsetzung des rechtlichen Rahmens in Bezug auf Palliativpflege, Sterbehilfe und assistierten Suizid zu verbessern. Ein besonderer Aspekt ist die Palliativpflege von Kindern: So soll etwa ein neues Konzept zur Pflege entwickelt und ein Haus zur Entlastung gegründet werden, um betroffene Familien zu unterstützen.