CoronaParlamentarier unterstützen Regierung im Kampf gegen das Virus, fordern aber, das Wirtschaftsmodell zu überdenken

Corona / Parlamentarier unterstützen Regierung im Kampf gegen das Virus, fordern aber, das Wirtschaftsmodell zu überdenken
Nur rund ein Drittel der 60 Abgeordneten hatten am Dienstag im Sitzungssaal des Parlaments Platz genommen. Aus Sicherheitsgründen mussten zwischen jedem Abgeordneten zwei Sitze frei bleiben. Foto: Editpress/Alain Rischard

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Um die Coronakrise zu bewältigen, ruft die luxemburgische Regierung den Notstand aus. Damit können vorübergehend reglementarische Maßnahmen ohne Zustimmung der Abgeordnetenkammer getroffen werden. Das Parlament begrüßt diese Maßnahme, fordert die Regierung aber gleichzeitig dazu auf, die richtigen Lehren aus der Pandemie zu ziehen und das rein auf Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaftsmodell zu überdenken.

In seiner Erklärung über das neuartige Coronavirus im Parlament hat Premierminister Xavier Bettel (DP) am Dienstag angekündigt, den Notstand („Etat de crise“) in Luxemburg auszurufen. Die rechtliche Grundlage dafür ist Artikel 32 (4) der Verfassung, der laut dem früheren Berichterstatter Alex Bodry (LSAP) 2015 im Rahmen der Verfassungsreform für den Schutz der Bevölkerung im Falle einer Versorgungsknappheit ausgearbeitet worden war und 2017 an die damals herrschende terroristische Bedrohung angepasst wurde, um dringende Maßnahmen rasch und unbürokratisch umsetzen zu können. Der Artikel besagt, dass der Großherzog und die Regierung im Falle einer internationalen Krise, einer reellen Bedrohung der lebenswichtigen Interessen der Bevölkerung oder einer imminenten Gefahr für die öffentliche Sicherheit reglementarische Maßnahmen ohne Zustimmung der Abgeordnetenkammer ergreifen können. Die Maßnahmen müssten angebracht, verhältnismäßig und notwendig sein, erklärt Verfassungsexperte Bodry auf Nachfrage. Sie können gegen geltende Gesetze verstoßen, müssen aber im Einklang mit der Verfassung und internationalen Abkommen stehen. Der Notstand kann über eine großherzogliche Verordnung oder ein Reglement verhängt werden und lediglich zehn Tage aufrechterhalten werden. Für eine Verlängerung braucht es ein Gesetz, das von einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament angenommen werden muss. Mit diesem Gesetz darf der Notstand maximal drei Monate andauern. Alle während dieser Zeit getroffenen Reglemente verlieren am Ende des Notstands ihre Gültigkeit. Bislang hatte die Regierung ihre Maßnahmen zur Coronakrise auf der Grundlage eines Gesetzes von 1885 über die Verbreitung ansteckender Krankheiten getroffen. Mit dem Eintreten des Notstandes verfügt sie nun über eine solidere rechtliche Grundlage.

Wegen der Coronakrise erlebe Luxemburg zurzeit eine außergewöhnliche Situation, die es so noch nie gegeben habe, sagte Bettel. Die Zahl der mit Covid-19 infizierten Personen steige täglich an. Um den Anstieg einzudämmen, sei jeder Einzelne gefordert. „Bleift doheem“ lautet die Aufforderung an die Bevölkerung, die der Premierminister im Laufe seiner Ansprache am Dienstag mehrmals wiederholte und die auch von allen anderen Parteien unterstützt wird. Direkte soziale Kontakte müssten auf ein absolutes Minimum reduziert werden, nur so könne man die sanitäre Krise in den Griff bekommen.

Nachdem Anfang dieser Woche bereits Schulen und Betreuungsplätze sowie Cafés, Restaurants, viele Geschäfte und Einrichtungen geschlossen wurden, sollen nun auch die Baustellen bis allerspätestens Freitag um 17.00 Uhr den Betrieb einstellen. Spielplätze werden ebenfalls bis auf weiteres geschlossen. „Diese Regeln nicht einzuhalten, ist ein Teil Egoismus“, betonte Bettel. Wer sich nicht daran halte, stelle nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für die anderen dar.

CSV-Fraktionschefin Martine Hansen begrüßte den Notstand, forderte aber als weiterführende Maßnahme eine „Ausgangssperre mit klar definierten Regeln bis hin zum Shutdown“, wie sie der französische Präsident Emmanuel Macron am Montagabend verkündet hatte. Daraufhin betonte Bettel, dass die Prinzipien des Notstands in Luxemburg genau die gleichen seien wie die in Frankreich: „Bleif doheem, wann s de net onbedéngt eraus oder schaffe muss“, laute die Maxime. Die Menschen sollten nur nach draußen, wenn es unbedingt sein müsse. Nur verzichte Luxemburg auf das Ausweisformular, das die französische Regierung ihren Bürgern zur Verfügung stellt, für den Fall, dass sie in eine polizeiliche Kontrolle geraten sollten. Wo Telearbeit möglich sei, müsse diese umgesetzt werden. Wo dies nicht möglich sei, dürften die Leute zur Arbeit gehen, sagte Bettel. Ferner kündigte er an, dass auch die Bus- und Bahnfahrten in den nächsten Tagen reduziert würden.

Polizeiliche Kontrollen würden aber auch in Luxemburg durchgeführt, erklärte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP): Die Beamten würden schon seit einigen Tagen darauf achten, dass die Menschen den empfohlenen Sicherheitsabstand zueinander einhalten und Menschen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten, darauf ansprechen, ob sie wirklich unterwegs sein müssen.

Auch die Armee soll künftig stärker eingesetzt werden. So sollen Soldaten die medizinischen Materiallager überwachen, die laut Lenert schon Diebstählen zum Opfer gefallen seien. Dabei fehle es in Luxemburg noch immer an Sicherheitsgegenständen wie Schutzmasken, Tests oder ähnlichem. Lieferungen aus dem Ausland seien bestellt, würden aber Zeit in Anspruch nehmen, verkündete die Gesundheitsministerin. Eine Verteilungsstrategie soll dafür sorgen, dass das Material zuerst dort eintrifft, wo es am nötigsten gebraucht werde. An erster Stelle kämen Ärzte und Krankenhäuser, erst danach würden die Apotheken, der Pflegesektor und die Laboratorien mit Material versorgt.

Zusatzstrukturen und Behandlungszentren

Der Staatsminister vermisste in diesem Zusammenhang die Unterstützung der Nachbarländer. Es sei traurig, dass selbst innerhalb der EU in manchen Bereichen keine gemeinsamen Lösungen gefunden werden könnten, bedauerte Xavier Bettel, der nach der Kammersitzung noch an einer Telefonkonferenz der europäischen Staatschefs teilnahm. Bettel will sich auch um Garantien bemühen, damit die Grenzgänger, ohne die das luxemburgische Gesundheitssystem und die gesamte Wirtschaft nicht funktionieren könnten, auch künftig verfügbar bleiben. „Wenn die Grenzen zu sind, ersticken wir, unser System geht kaputt“, sagte Bettel am Dienstag.

Paulette Lenert berichtete den Abgeordneten, dass am Dienstagnachmittag von den 140 Infizierten sechs Corona-Patienten in Luxemburg in medizinischer Behandlung waren, einer davon auf der Intensivstation. Am Montag wurde ein Krisenstab im Gesundheitsministerium eingerichtet, die reguläre Arbeit der Behörden werde hinten angestellt. Dieser Stab sei in ständigem Austausch mit den Partnern aus dem Gesundheitssektor und den Mitarbeitern der Hotline des Gesundheitsministeriums, um auf die Probleme der Bevölkerung einzugehen. Den Anstieg der Infizierten führte Paulette Lenert auch darauf zurück, dass inzwischen nicht nur das nationale Gesundheitslaboratorium, sondern auch Privatlaboratorien testen können. Bis Dienstagnachmittag seien insgesamt 1.500 Tests auf Covid-19 durchgeführt worden.

Um sich auf einen rasanten Anstieg an Infizierten vorzubereiten, werden die Kapazitäten in den Krankenhäusern erhöht. Betten für Notfälle werden freigemacht, rund um das CHL und in der Luxexpo sollen Zusatzstrukturen entstehen. Für einfachere Betreuungen werden Behandlungszentren im Genesungszentrum der Croix-Rouge in Colpach und im Mondorfer Thermalbad eingerichtet. Heute Mittwoch um 10.00 Uhr werden sogenannte spezielle Corona-Filialen in den „Maisons médicales“ in Ettelbrück, Esch/Alzette und im INS in der Hauptstadt eröffnen. Im Osten Luxemburgs wird noch nach einer entsprechenden Lösung gesucht. Ziel dieser Corona-Filialen ist es, systematisch und flächendeckend zu testen.

Neben den gesundheitlichen Risiken birgt die Coronakrise weitreichende Folgen für die Wirtschaft. Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) und Mittelstandsminister Lex Delles (DP) hatten bereits Steuererleichterungen und Hilfsmaßnahmen angekündigt. Delles und Finanzminister Pierre Gramegna (DP) sollen im Laufe dieser Woche noch zu weiteren Unterstützungen, insbesondere für kleine und mittlere Betriebe sowie Selbstständige, Auskunft geben. Eine weltweite Rezession könne nicht ausgeschlossen werden, mit der Finanzindustrie und seinen Banken verfüge Luxemburg aber über eine stabile wirtschaftliche Grundlage, meinte Xavier Bettel. Erst vergangene Woche hatten sämtliche Ratingagenturen das „AAA“ Luxemburgs bestätigt und dem Land seine Widerstandsfähigkeit gegen die Coronakrise bescheinigt.

Wirtschaftsmodell überdenken

Die parlamentarische Debatte im Anschluss an die Erklärungen des Staatsministers und der Gesundheitsministerin verlief konstruktiv und unpolemisch, wie Bettel feststellte. Sämtliche Parteien sprachen der Regierung Unterstützung für ihre Entscheidungen in der Krise aus und freuten sich über die vielen Solidaritätsbekundungen und Hilfsaktionen der Bevölkerung. CSV-Fraktionschefin Martine Hansen (CSV) wies aber darauf hin, dass das Parlament weiter eingebunden bleiben müsse und es der Opposition zustehe, auf eventuelle Probleme aufmerksam zu machen. Sowohl die Versorgungssicherheit als auch die soziale Absicherung müssten erhalten bleiben, so Hansen. Die kleinen und mittleren Betriebe dürften nicht alleine gelassen werden. Die CSV befürchtet, dass es wegen der Grenzschließungen in den Nachbarländern zu einem Personalmangel im Gesundheits- und Pflegesektor kommen könnte. Um dem vorzubeugen, schlug Hansen vor, Medizinstudenten auszubilden und einzubinden. Auch die Armee könnte bestimmte Aufgaben übernehmen.

Genau wie LSAP-Fraktionschef Georges Engel, die Fraktionspräsidentin der Grünen, Josée Lorsché, und der „déi Lénk“-Abgeordnete Marc Baum wies Martine Hansen darauf hin, dass das Coronavirus ein „Gamechanger“ sein könnte, indem es die Globalisierung und das auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsmodell verändern könnte. Die Regierung müsse sich künftig Gedanken darüber machen, ob sie weiterhin ausschließlich auf Outsourcing und Profitmaximierung setzen wolle, so Hansen. Corona lade zur Förderung dezentraler und kleiner regionaler Strukturen ein, um uns von multinationalen Pharmakonzernen unabhängig werden zu lassen, sagte Josée Lorsché. Das Gesundheitssystem müsse gestärkt werden, auch auf EU-Ebene bestehe Nachholbedarf, damit Pandemien künftig wirksamer bekämpft werden könnten.

Georges Engel schlug vor, darüber nachzudenken, die durch Corona entstandene Entschleunigung auch nach der Krise beizubehalten. Das Virus zeige die Grenzen der Globalisierung auf, Luxemburg müsse wieder mehr selbst produzieren und sich auf seine eigenen Kräfte besinnen. Dazu gehöre auch, die Gesundheitsberufe für Einwohner attraktiver zu machen.

Marc Baum forderte seinerseits die Regierung dazu auf, ihr Wirtschaftssystem und ihre Freihandelspolitik zu überdenken, die eine Mitschuld an dieser Gesundheitskrise hätten. Die Privatisierung des Gesundheitssektors müsse unterbunden werden, stattdessen brauche Luxemburg mehr denn je einen starken öffentlichen Dienst und ein leistungsfähiges öffentliches Gesundheitssystem. Die Regierung müsse der Angst in der Bevölkerung entgegentreten und die soziale und wirtschaftliche Not mit konkreten Maßnahmen bekämpfen, verlangte Marc Baum. Dazu gehöre, die Angestellten aus dem Gesundheits- und Pflegesektor, Busfahrer, Reinigungspersonal und Beschäftigte im Handel besser vor dem Virus zu schützen. Auch Obdachlose bräuchten Schutz. Mindestlohnempfänger und Selbstständige dürften nicht im Stich gelassen werden, so Marc Baum.

Der DP-Fraktionsvorsitzende Gilles Baum (DP) sprach sich für eine Stärkung des luxemburgischen Gesundheitssektors und eine Verbesserung der europäischen Zusammenarbeit aus. Das Europa der offenen Grenzen sei für Luxemburg unabdingbar. Gilles Baum und Josée Lorschée zollten den Grenzpendlern besondere Anerkennung, indem sie sich bei ihnen auf Französisch und Deutsch bedankten.

Fernand Kartheiser (ADR) stellte Defizite bei der Versorgung fest und forderte Notfallpläne im Gesundheitssektor, das Anlegen von Reserven bei Grundnahrungsmitteln und Erdöl sowie für Masken und Desinfektionsmittel. Sven Clement (Piraten) wünscht sich eine bessere Kommunikation von der Regierung. Die getroffenen Maßnahmen seien gut, müssten aber besser erklärt und begründet werden.

Nur rund ein Drittel der 60 Abgeordneten hatten am Dienstag im Sitzungssaal des Parlaments Platz genommen. Aus Sicherheitsgründen mussten zwischen jedem Abgeordneten zwei Sitze frei bleiben. Abgeordnete über 65 und krankheitsanfällige Parlamentarier durften entschuldigt zuhause bleiben, die anderen verfolgten die Sitzung in den benachbarten Räumen, in denen sonst die Ausschusssitzungen stattfinden.
Wie Kammerpräsident Fernand Etgen (DP) verkündete, hat die Abgeordnetenkammer alle Ausschuss-Sitzungen für diese Woche abgesagt. Die konstitutionelle Rolle des Parlaments bleibe aber weiterhin gewährt, versicherte Etgen.

Paula
18. März 2020 - 11.08

Automatisierung und Robotics bitte! Und Telearbeit. Ein Land mit +- 620.000 Einwohner, das täglich 200.000 Menschen importiert, muss einsehen, dass es die Grenze dessen was noch vernünftig ist überschritten hat. Wirtschaft zurückfahren, ein veraltetes Rentensystem überarbeiten (hätte längst gemacht werden müssen) und die Menschen darauf vorbereiten, dass der Staat in Zukunft vielleicht nicht mehr im gleichen Masse von „cradle to grave“ für seine Einwohner sorgen kann. Eigenverantwortung stärken und diese bereits im Kindergarten lehren - in guten Zeiten zurücklegen, damit man in schlechten Zeiten hat (gilt für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermassen) - nicht mehr Kinder in die Welt setzen als man finanziell und emotional verkraften kann - um nur 2 Beispiele zu nennen. Die Rezession wird kommen, ich hoffe, dass es „nur“ eine Rezession sein wird. Richtig sauer werde ich bei den Medikamenten; für den europäischen Markt müssen diese in Europa hergestellt werden; pre-Trump hätte ich noch geschrieben: oder in einem Land mit vergleichbaren Hygienevorschriften. Die Zeiten, die sind allerdings „ein Stück vorbei“.