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RusslandNur noch Gewalt – nach Prigoschins Tod hat die Zeit der Abrechnungen offenbar begonnen

Russland / Nur noch Gewalt – nach Prigoschins Tod hat die Zeit der Abrechnungen offenbar begonnen
Jewgeni Prigoschin serviert Wladimir Putin Essen, das war im Jahr 2011 – jetzt hat Russlands Präsident nur noch völlig selbstgerecht formuliertes Beileid für den toten Söldnerchef übrig Foto: AP/dpa

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Der Absturz des Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin zeigt die Erosion eines als stabil beschwörten Systems in Russland. Die Zeit der Abrechnungen innerhalb der Elite hat offenbar begonnen.

Wladimir Putin seufzt, er räuspert sich, spricht von einem „talentierten Menschen“, den er seit den 1990ern gekannt habe. Von einem, der ein „schweres Schicksal“ gehabt und „ernsthafte Fehler“ begangen habe, aber stets „lösungsorientiert“ gewesen sei und einen „wesentlichen Beitrag für unsere Sache“ geleistet habe. Es ist eine verklausulierte Grabrede auf einen, der nur durch Putins jahrelanges Zutun zu dem wurde, was er war, sich gegen diesen wandte, ohne es offenbar zu begreifen, daraufhin nicht aus dessen Blickfeld verschwand, sondern sich im Umfeld des Präsidenten sicher wähnte und schließlich sein Leben ließ. Ein ungelenk und völlig selbstgerecht formuliertes Beileid für Jewgeni Prigoschin, den Putin nach dessen Eintagesmeuterei einen Verräter nannte, wobei jeder wusste, was Putin für Verräter vorsieht: den Tod.

Nun ist Prigoschin mit der gesamten Führungsriege seiner skrupellosen Wagner-Gruppe in seinem Privatjet unweit von Putins Sommerresidenz vom Himmel gefallen, und der Präsident lehnt sich in seinem holzvertäfelten Zimmer zurück – rechts und links von sich Spiralblöcke mit nicht erkennbaren Bildern – und gibt das Unschuldslamm. Die „Tragödie“, sagt er, werde „vollständig aufgeklärt“ werden. So „vollständig“, dass wohl niemand in der Öffentlichkeit die wahre Version des „Zwischenfalls“, wie Putin den Flugzeugabsturz bezeichnet, erfahren dürfte.

Nach Putin reden auch die anderen

Kaum hat Putin gesprochen – er tat das mehr als 24 Stunden nach dem Absturz –, melden sich auch andere schnell zu Wort, die sonst kaum einen Spruch auslassen, diesmal aber erstaunlich still waren. Sie reden in vergleichbaren Worten über Prigoschin. Es habe den „schwierigen Mann“ gegeben, er habe nicht alles richtig gemacht, nun sei er nicht mehr da. Empathie für einen „seit Jahren Bekannten und Geschätzten“ klingt anders. Von jedweder Trauer keine Spur. Auch das russische Staatsfernsehen spricht plötzlich – wenn auch nahezu am Ende seiner Nachrichtensendungen – über den mutmaßlichen Tod Prigoschins, ähnlich verklausuliert wie Putin. Vielmehr steht der Absturz an sich im Vordergrund, nicht der Söldnerchef, der unter hohem Blutzoll in der Ukraine Ortschaften eroberte, von Putin selbst als „Held Russlands“ geehrt wurde und mit seinen Panzern und Tausenden von Soldaten einen Marsch auf Moskau wagte.

Putins selbstgewisse Worte geben quasi die Order an seine Propagandisten, Prigoschin nicht zu verfluchen. Und es geht weiter im Programm. Weiter im Alltag, in dem viele schweigen und alles, was passiert, als Normalität hinnehmen, sich ihr anpassen. Da fallen mittlerweile fast täglich Drohnen auf Moskauer Stadtgebiet, nahezu jede Nacht sind Moskauer Flughäfen gesperrt, auch Raketen erreichen russisches Territorium. Die Verwaltungen lassen die zerborstenen Fenster ersetzen und tun so, als sei nichts passiert. Bis die nächste Drohne im Anflug ist. „Was können wir schon ausrichten?“, fragen die Menschen. Auch die Elite verhält sich wie ein graues, verscheuchtes Mäuschen, das keinen Piep von sich zu geben bereit ist.

Innerhalb der russischen Wirtschaftselite und auch aus dem Umfeld der Präsidialverwaltung sprechen durchaus einige von Unzufriedenheit, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand. Die Führung zu kritisieren, geschweige denn sich gegen den Krieg aufzulehnen, wagt niemand. Prigoschins Absturz zeigt ihnen nun noch zusätzlich und auf eine brutale Weise, dass Widerstand zwecklos ist. Der Absturz wird einerseits als „so ein Unfall passiert halt“ abgetan, andererseits als öffentliche Hinrichtung eines Unbequemen wahrgenommen. Als Wink an die gesamte russische Elite, sich nicht mit dem Präsidenten anzulegen und schon gar nicht den Krieg in der Ukraine und wie er geführt werde, in Frage zu stellen. Die demonstrative Bestrafung vor aller Augen, geradezu theatralisch inszeniert, soll die Elite in Angst und Schrecken versetzen, bei denen, die ohnehin in Angst leben, ihre Pfründe zu verlieren und ins Abseits zu geraten – durch Verbannung ins Ausland oder ein Gerichtsverfahren wegen was auch immer –, noch mehr dafür sorgen, dass sie sich still und loyal verhalten. Doch wie lange?

Ein Regime, das im rechtsfreien Raum agiert

Ein System, das sich rühmt, stabil zu sein, erodiert. Nicht erst seit Prigoschins buchstäblich tiefem Fall. Es ist politisch ungesund. Nicht weil es kein demokratisches und freiheitlich-liberales ist, das haben selbst die größten Befürworter von Putins „Vertikale der Macht“ längst verstanden, sondern weil auch autoritären Herrschern eigentlich daran gelegen sein sollte, die Wahrung ihrer Selbst zu pflegen. Letztlich funktioniert das über die Wahrung der Gesetze des Landes, die sie selbst erschaffen haben. In den russischen Gesetzen sind Privatarmeen verboten, wie es auch verboten ist, Sträflinge ohne Begnadigungen freizulassen. Prigoschin hatte eine schlagkräftige Privatarmee (es gibt auch etliche weitere Privatarmeen in Russland), dafür ließ er in den Strafkolonien des Landes Zehntausende rekrutieren.

Da die oberste Führung selbst Gesetze missachtet, da sie selbst im rechtsfreien Raum agiert, letztlich Terror verbreitet, nehmen sich auch andere Akteure das Recht heraus, ähnlich vorzugehen und die Führung herauszufordern. Das hatte Prigoschin mit seiner Meuterei im Juni dieses Jahres versucht. Er war gescheitert und offenbarte, für jeden sichtbar, mit welchen Methoden der Staat mittlerweile geführt wird: durch Abrechnungen.

Putin rühmt sich stets dafür, dass er solchem Vorgehen, das in den 1990ern das Land lähmte, den Garaus gemacht hatte. Nun muss er selbst darauf setzen, weil er seine Macht nur durch Gewalt, die immer größere Ausmaße annimmt, aufrechterhalten kann. Er hat zwar die Macht, eine öffentliche Hinrichtung vorführen zu lassen und sich danach so zu geben, als habe das alles nichts mit ihm zu tun, ein Zeichen der Stärke ist das dennoch nicht. Putin setzt immer mehr auf Abschreckung, weil das Vertrauen in seine politische Stärke letztlich dahin ist, selbst in seinem Umkreis. Die russische Politologin Jekaterina Schulmann, die seit dem Krieg im deutschen Exil lebt, nennt das immer brutalere Vorgehen des Machterhalts „Abrechnungen auf Steroiden“. Es reiche nicht mehr, seinen Gegner hinter Gitter zu bringen, es müssten demonstrativere Bestrafungsmethoden her.

Repression als einziges Mittel, das bleibt 

Und es trifft nicht mehr „nur“ die offensichtlichen Kritiker. Nicht die unabhängigen Journalisten, die erniedrigt, geschlagen, getötet werden, nicht die Oppositionspolitiker, die diffamiert, vergiftet, erschossen werden. Es trifft auch die, denen das Regime gestern noch höchst dankbar war, weil sie die Drecksarbeit für dieses Regime erledigt hatten. Prigoschin war ein Geschöpf des Systems Putin, er war kein Oppositioneller. Sein Tod und der Umgang damit lässt die Elite weiter kalkulieren. Reicht ihr noch der Status quo oder müsste sich etwas ändern?

Die russische Elite ist eine alte, sie hat sich seit den 1990er Jahren herausgebildet und seit Putins Machtantritt ihre Pfründe weiter vermehrt, zumindest diejenigen Vertreter dieser, die Putins Spiel mitspielen wollten und wollen. Sie hat sich kaum erneuert. Es geht den Menschen um den Erhalt ihrer Privilegien, es geht ihnen auch um die Weitergabe dieser an ihre Kinder. Noch fahren sie gut mit dem, was das System Putin ihnen bietet. Was aber, wenn sich einer findet, der noch weiter zu gehen bereit ist als Prigoschin und das Kalkül, dadurch etwas zu gewinnen, in den Augen mancher aufgeht? Solche Perspektiven sind freilich reine Spekulation, machen aber das System noch instabiler. Und Instabilität begegnet Putin mit Repressionen, andere Mittel, sich seiner Macht sicher zu sein, hat er nicht mehr.