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Nicaragua wandelt sich vom linken Sehnsuchtsland zum Chaos-Staat

Nicaragua wandelt sich vom linken Sehnsuchtsland zum Chaos-Staat
Eine Verwandte von Manuel Eduardo Tijerino protestiert mit gefesselten Händen vor dem Gefängnis "El Chipote". Tijerino wurde im Rahmen der Proteste gegen die Regierung in Haft genommen. Foto: DPA

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Die Guten hatten in Nicaragua gewonnen. Damals gab «Comandante Daniel» der Bevölkerung Freiheit und Sicherheit. Heute lässt die Regierung Demonstranten einsperren. Seit April eskaliert die Situation. Der Staat hat sich in einen Teufelskreis manövriert.

Von Gabriela Selser und Amelie Richter

Die Familie von Esmilse Patricia Campos hatte gerade das Frühstück beendet, als Polizisten ihren Ehemann mitnahmen. «Ich habe gefragt: Warum? Sie haben mir nicht geantwortet», sagt die Frau, die nun vor dem Gefängnis «El Chipote» in Nicaraguas Hauptstadt Managua steht, in den Händen einen Rosenkranz und ein Paket Kekse. «Meine Nachbarin hat gesagt, das sei passiert, weil wir zu den Märschen gegangen sind», sagt Campos.

Gemeint sind die regierungskritischen Demonstrationen, die das mittelamerikanische Land seit Wochen in Atem halten. Mehr als 300 Menschen sind nach Angaben von Menschenrechtlern bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften in den vergangenen zwei Monaten ums Leben gekommen.

Mit Campos warten rund 20 weitere Frauen vor dem Gefängnis. Dort saß 1968 auf Anordnung des Diktators Anastasio Somoza auch der linke Guerilla-Kämpfer Daniel Ortega ein. Heute ist Ortega Präsident und nutzt «El Chipote», um seinerseits Oppositionelle einsperren zu lassen. Hunderte wurden ohne richtigen Haftbefehl mitgenommen.

«Konflikt war jahrelang absehbar»

Die Fronten zwischen ziviler Opposition aus Studenten, Unternehmern, Bauern und anderen Organisationen und der Regierung unter dem autoritären Präsidenten sind verhärtet. Das Sehnsuchtsland auch deutscher linker Revolutionsromantiker in den 80er-Jahren hat sich zum Krisenstaat entwickelt: Die Revolution lässt ihre Kinder niederschießen und einsperren.

Der Konflikt in dem Land mit seinen 6,4 Millionen Einwohnern eskalierte im April – aber nicht aus heiterem Himmel. Er sei bereits seit Jahren abzusehen gewesen, erklärt Marco Pérez-Navarrete von der Heinrich-Böll-Stiftung in San Salvador, der die Situation in Nicaragua beobachtet. Landwirte im Süden protestierten gegen Planung und Bau des gigantischen «Nicaragua-Kanals», der Atlantik und Pazifik verbinden soll. Die Regierung stellte sich auf die Seite der Investoren und ließ die Baugegner zum Schweigen bringen. «Viele Leute sind einfach verschwunden», so Pérez-Navarrete. Mit Beginn der politischen Krise im verbündeten Venezuela blieben in Nicaragua zudem für die Wirtschaft wichtige Subventionen aus, so Pérez-Navarrete.

Die bereits angespannte Stimmung eskalierte, als Ortega im April eine Sozialreform ankündigte. Die Pensionen sollten gekürzt, dafür aber Steuern angehoben werden, wie Geoff Thale vom Forschungsinstitut Washington Office on Latin America (WOLA) erklärt. Die Menschen ging auf die Straßen – mit Erfolg. Ortega zog den Reformplan zurück, den Protesten setzte das aber kein Ende. «Die Polizei und paramilitärische Gruppe griffen die Demonstranten an», berichtet Thale. Ein Journalist sei sogar während der laufenden Berichterstattung erschossen worden.

Vom Idealisten zum autoritären Alleinherrscher

Seither kommt das Land nicht zur Ruhe. Viele Menschen trauen sich nicht mehr aus ihren Häusern. In Managua lauern Scharfschützen auf Dächern. Die Informationslage ist schwierig, das Regierungsportal «El 19 Digital» betont gebetsmühlenartig den Friedenswillen Ortegas und seiner Ehefrau, der Vizepräsidentin Rosario Murillo. Doch dies erscheint konträr ist zu dem, was auf den Straßen passiert.

Ein von der katholischen Kirche vermittelter Friedensdialog scheiterte zweimal. Die zivile Opposition fordert unbeirrt den Rücktritt des Regierungsehepaars.

In seinen fast vier Jahrzehnten in der Politik hat Ortega eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht, vom idealistischen linken Rebellen zum autoritären Alleinherrscher durchgemacht. Nach dem Sieg der Revolution gegen die Somoza-Diktatur 1979 war Nicaragua Sinnbild der internationalen Linken für Frieden und Freiheit. Später verbündete sich Ortega dann mit dem Großkapital und schlug einen neoliberalen Wirtschaftskurs ein.

Viele öffentliche Gelder sollen über dunkle Kanäle in die Taschen seiner Familie geflossen sein. Wegen seines autoritären Regierungsstils und zahlreicher Korruptionsvorwürfe wandten sich viele Weggefährten von Ortega ab, darunter auch der Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal, der in Deutschland vor allem wegen seiner Bücher «Psalmen» (1969, dt. 1979) und «Das Buch von der Liebe» (1985) verehrt wurde. 1990 verlor Ortega die Präsidentenwahl und ging in die Opposition. 2006 kehrte er an die Staatsspitze zurück und wurde 2011 wiedergewählt – obwohl dies laut Verfassung nicht zulässig war.

Hoffnungsschimmer Neuwahlen

Der Einsatz von Gewalt gegen die Bevölkerung und die polarisierende Sprache helfe einem möglichen Friedensprozess nicht, bilanziert der Experte Pérez-Navarrete. In einem Rücktritt Ortegas sieht er aber auch nicht die Lösung für das Problem. «Wenn er geht, sind die politischen Kräfte hinter ihm immer noch da.» Beide Seiten wollten in der Verhandlung keine Schwäche zeigen. Als erstes Zeichen müsste die Gewalt beendet werden, fordert er. Die Straßenschlachten machen ein normales Leben in Teilen des Landes unmöglich, Transporter mit Benzin oder Lebensmitteln können wegen der Straßensperren nicht mehr überall fahren.

Auch die Wirtschaft leidet stark unter der Krise. Allein dem Tourismussektor könnten im Juli rund 170 Millionen Dollar entgehen, sagte die Präsidentin der Nationalen Tourismus-Kammer, Lucy Valenti. Bereits 65.000 Arbeitsstellen seien verloren gegangen.

Nach Angaben der Zentralbank ist die Arbeitslosigkeit von 3,7 auf 6 Prozent gestiegen, die Inflation von 5 auf 8,5 Prozent. Sollte sich die Lage nicht beruhigen, könne das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr von 4 auf 1,5 Prozent abfallen, hieß es.

Ein Hoffnungsschimmer sind vorgezogene Neuwahlen, die unter anderem auch von der Organisation Amerikanischer Staaten gefordert werden. Beide Seiten müssten sich klarmachen, dass sie sich brauchen, um das Leben im Land am Laufen zu halten, so Pérez-Navarrete. Als jemand, der in El Salvador geboren wurde, bedrücke ihn die Lage in Nicaragua noch mehr. «Es war immer ein Beispiel für Frieden. Es ist wirklich schwer, das Land so untergehen zu sehen.»

Pit Senninger
10. Juli 2018 - 7.25

Wirwaat ginn mir do nach emmer, al Joer, Milliounen als Entwecklungshellef aus an ennertetzen domat direkt an indirekt d'Sandinisten?