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Platte der WocheNeues Metallica-Album „72 Seasons“: Vom Metal-Kult-Act zum Popkulturgut

Platte der Woche / Neues Metallica-Album „72 Seasons“: Vom Metal-Kult-Act zum Popkulturgut
 Foto: Tim Saccenti

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Metallica haben dieser Tage „72 Seasons“ veröffentlicht, den Nachfolger zu ihrem starken Spätwerk „Hardwired… To Self-Destruct“ aus dem November 2016. Grund genug, einen Blick auf ihre sich über bereits fünf Dekaden erstreckende Karriere zu blicken. Was heißt, sich mit einer sehr bewegten Karriere zu beschäftigen, im Verlauf derer die Treue ihrer Fans mehrfach auf die Probe gestellt wurde.

„72 Seasons“ ist das elfte Studioalbum der (Thrash)-Metal-Band. Die wurde Ende 1981 in Los Angeles gegründet, nachdem der dänische Schlagzeuger Lars Ulrich in der örtlichen Zeitung The Recycler eine schlichte Annonce mit folgendem Wortlaut aufgegeben hatte: „Drummer sucht weitere Metalmusiker, um mit Tygers Of Pan Tang, Diamond Head und Iron Maiden zu jammen.“

Davon angesprochen fühlte sich unter anderem Gitarrist/Sänger James Hetfield. Zusammen mit Ron McGovney (Bass) und Gitarrist Dave Mustaine komplettierte er das erste Line-up. Für McGovney kam 1982 Cliff Burton und ein Jahr später ersetzte Kirk Hammett den heutigen Megadeth-Chef Mustaine.

Damit war die legendäre Besetzung perfekt, die das Debütalbum „Kill ‘Em All“ (Juli 1983), dessen Nachfolger „Ride The Lightning“ (Juli 1984) und „Master Of Puppets“ (März 1986) einspielte. Je nachdem, wen man nach seinem Metallica-Lieblingsalbum fragt: ältere Fans werden sich größtenteils für eines der drei entscheiden. Der Autor dieser Zeilen favorisiert übrigens „Master Of Puppets“. Vielleicht auch, weil es das letzte Album mit Ausnahmebassist Burton war. Am 27. September 1986 verstarb er bei einem Tourbusunglück in Schweden viel zu früh im Alter von 24 Jahren. Die Metalwelt war kurz in Schockstarre – vergleichbar mit dem tragischen Tod des begnadeten Ozzy-Osbourne-Gitarristen Randy Rhoads am 19. März 1982.

Metallica entschlossen sich dazu, weiterzumachen, und suchten aus etwa 50 Kandidaten, darunter einige namhafte Musiker, Jason Newsted von den Thrash-Metallern Flotsam & Jetsam aus. Ihm kam die unglaublich schwierige Aufgabe zuteil, Burton und dessen ikonisches Bassspiel (siehe etwa „For Whom The Bell Tolls“ auf „Ride The Lightning“ oder „Orion“ auf „Master Of Puppets“) zu ersetzen.

Hinzukam, dass er wohl nie als ebenbürtiges Mitglied behandelt wurde. Er war der Neue, der Junge. Von einer schwierigen Beziehung zwischen ihm und dem Rest der Band zu reden, ist aus heutiger Sicht nicht übertrieben. Dennoch hielt es ihn bis 2001 bei Metallica.

Zusammen entstanden legendäre Alben wie „…And Justice For All“ (September 1988) und „Metallica“ (August 1991), das schwarze Album, dank dessen Hits „Enter Sandman“, „Nothing Else Matters“ und „Sad But True“ Metallica bis in jedes Jugendzimmer, in jede Dorfkneipe und auf jedes Dorffest vordrangen und vom Metal-Kult-Act zum Popkulturgut wurden.

Die Zeit nach Newsteds Abgang wurde detailliert von den Filmemachern Joe Berlinger und Bruce Sinofsky für die Banddokumentation „Metallica: Some Kind Of Monster“ (2004) festgehalten. Dort konnte sich jeder Fan ein Bild davon machen, wie kaputt die Band seinerzeit war, die sich gleich mit mehreren Aufgaben konfrontiert sah: Hetfields Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Newsteds Nachfolgeregelung und die Produktion des Albums, das auf „Load“ (Juni 1996) und „Reload“ (November 1997) folgen sollte.

Letztlich wurde „St. Anger“ mit Produzent Bob Rock am Bass eingespielt und erschien im Juni 2003, kurz bevor Rob Trujillo, bekannt von Suicidal Tendencies, Infectious Grooves und Ozzy Osbourne, als neuer Bassist vorgestellt wurde.

Vielseitig und balladenlos

Seitdem ist das Line-up konstant und das Bandfahrwasser ruhiger. Mit dem sehr sympathischen Trujillo, der voll integriert zu sein scheint, entstanden bis dato drei Alben: „Death Magnetic“ (September 2008), das eingangs erwähnte „Hardwired… To Self-Destruct“ (November 2016) und jetzt „72 Seasons“ mit seinem schrill-gelben Artwork.

Es ist ein vielseitiges Album, auf dem Metallica gänzlich auf eine Ballade verzichtet haben. Der Auftakt hat etwas von einem Medley: verschiedene Parts wurden zu einem Song zusammengefasst. Es ist zugleich ein rasanter Start für die folgenden 77 Minuten: Ulrich gibt ebenso Gas wie seine Kollegen.

Auch „Shadows Fall“ ist ein dynamischer Song und wird von Hetfields Gesangsmelodie getragen. Der hat übrigens in einem Videointerview erklärt, sich diesmal lyrisch sehr geöffnet zu haben. In den Texten blicke er auf die ersten 18 Lebensjahre eines Menschen, ergo die ersten 72 Jahreszeiten. Diese formen maßgeblich den Charakter. Obendrein erklärte er, all seine Bandkollegen dazu animiert zu haben, sich beim Songwriting einzumischen. „72 Seasons“ scheint einem demokratischen Prozess entsprungen zu sein, was bei Metallica keineswegs Usus ist – einige Alben schrieb Hetfield im Alleingang.

Es war wohl nicht zu erwarten (vielleicht aber zu hoffen), dass sich auf „72 Seasons“ noch weitere hitverdächtige Bretter wie die Vorabsingle „Lux Æterna“ verstecken würden. Es ist eben kein „Ride The Lightning 2.0“ oder „Master Of Puppets 2.0“.

Was will man auch von einer Band erwarten, deren Mitglieder um die 60 Jahre alt sind? Den jugendlichen Elan werden sie nicht nochmal hervorzaubern können. „72 Seasons“ geht auch nicht gleich ins Ohr, aber mit mehrmaligem Hören öffnen sich die Songs den Hörern und es wird ersichtlich, dass die Band noch immer Energie und Ideen hat und sehr gute Songs schreiben kann – siehe das rasante „Screaming Suicide“, die spät zündende Auskopplung „If Darkness Had A Soul“, das Midtempo-Stück „You Must Burn!“, „Chasing Light“ oder „Room Of Mirrors“.

Je öfter das Album läuft, desto zufriedener kann man als langjähriger Fan sein. Sie haben schon deutlich schlechtere Songs veröffentlicht. Wahrscheinlich liegt das auch am gesünderen Bandklima und daran, dass Hetfield in 2019 erneut in der Reha war, um seine Suchtprobleme in den Griff zu bekommen. Man kann der Band nur die Daumen drücken, dass sie vor ihren Fans nie wieder dermaßen die Hose runterlassen muss wie in „Some Kind Of Monster“. Die Zeichen stehen derzeit sehr gut, dass das nicht mehr passiert.