Alle kämpferischen Durchhalteparolen halfen nichts. Lettlands Regierungschef Krisjanis Karins (Jauna Vienitoba, dt. Neue Einheit) hat am Montag überraschend das Handtuch geworfen – und will am Mittwoch beim Staatspräsidenten seinen Rücktritt einreichen. Damit geht nach drei Jahren eine der stabilsten Regierungsmannschaften des kleinen Baltenstaates aus dem Amt. Karins hatte zuerst versucht, drei Minister auszuwechseln, doch seine beiden rechten Koalitionspartner „Nationale Allianz“ und „Vereinigte Liste“ stellten sich quer. Als er dies nicht durchsetzen konnte, versuchte der in den USA und Deutschland aufgewachsene Sprachwissenschaftler zusammen mit der linken Opposition eine neue Koalition zu schmieden. Doch die beiden Parteien „Bauern und Grüne“ und „Progressive“ ließen ihn im Regen stehen. Nun wird in Riga über die Berufung von Karins Kollegin, Sozialministerin Evika Silinja (Jauna Vienitoba) als Nachfolgerin von Karins durch Staatspräsient Eduard Rinkevics spekuliert. Die 48-jährige Juristin könnte die Regierung bis zu vorgezogenen Neuwahlen weiterleiten.
Karins ging es dabei weniger um sein Amt, als um die Zukunft seines Landes. Das NATO-Mitglied Lettland ist nach dem russischen Angriff auf die Ukraine massiv unter den Druck des Kreml geraten. Riga hatte sich nämlich bedingungslos auf die Seite Kiews gestellt und 2022 im Vergleich am Bruttoinlandsprodukt weltweit die größte Ukraine-Hilfe geleistet. Riga sandte humanitäre Hilfe, aber auch bald Waffen in die Ukraine. Im April wurde von der Regierung Karins der obligatorische Wehrdienst wieder eingeführt. Denn das kleine Land grenzt auch an Russland und Belarus. Von beiden Seiten haben die Drohungen seit der russischen Invasion in der Ukraine zugenommen. Dazu kommt eine zahlenmäßig große russische Minderheit, deren Loyalität nicht immer klar ist. 27 Prozent der nur 1,9 Mio. Einwohner in Lettland bezeichnen sich als Russen, 3,3 Prozent als Belarussen.
Migrationsdruck könnte zunehmen
Die größte sichtbare Bedrohung stellen vom belarussischen Autokraten unterstützte Flüchtlinge aus Arabien, Afrika und Afghanistan dar, die regelmäßig den Grenzzaun forcieren. Erst am Sonntag erwischte der lettische Grenzschutz seine belarussischen Kollegen dabei, wie sie ein großes Loch in den Zaun schnitten und vier Flüchtlinge auf die andere Seite, in die EU, bugsierten. Lettland schickt diese Personen für gewöhnlich zurück, doch die Belarussen verweigerten diesmal ihre Wiedereinreise. Die Lage an der gemeinsamen Staatsgrenze ist angespannt, denn der eng mit Putin befreundete Autokrat Alexander Lukaschenko setzt die Flüchtlinge ein, um die lettischen Dienste abzulenken. Auch will er Unruhe und Verwirrung stiften.
Im August vor zwei Jahren verhängte Lettland deshalb schon einmal den Ausnahmezustand. Inzwischen wurde ein Grenzzaun gebaut und die Videoüberwachung der 172 Kilometer langen Grenze intensiviert. Die Flüchtlinge gelangen auf der künstlich geschaffenen „Belarus-Route“ via Moskau und Minsk mit dem Flugzeug aus ihren Herkunftsländern an die EU-Außengrenze. Deren Überquerung gilt unter ihnen als sicher und einfach im Vergleich zum Mittelmeer. Laut dem lettischen Grenzschutz wurden dieses Jahr bereits knapp 5.300 Personen daran gehindert, illegal nach Lettland einzureisen. Dies sind nur dreimal weniger als im viel größeren EU- und NATO-Land Polen, das die längste Grenze mit Lukaschenkos Reich teilt. Experten rechnen damit, dass der künstlich und aus politischen Gründen von Moskau und Minsk geschaffene Migrationsdruck zunimmt, sobald die ukrainische Gegenoffensive für den Kreml wirklich gefährlich wird.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können