Die Pandemie gehört zu der Gattung von Risiken und Katastrophen, über die der deutsche Soziologe Ulrich Beck schon vor Jahrzehnten festhielt, dass sie als unsichtbare und nicht direkt erfahrbare Ereignisse der Wissenschaft bedürfen, um erst als Gegenstand des Bewusstseins, der Gefahrenwahrnehmung und der Kommunikation konstruiert werden zu können.
Aber längst bedarf das pandemische Konstrukt nicht mehr nur der Wissenschaft, um Objekt des Bewusstseins zu werden. Mehr noch als durch Wissenschaft, die den meisten Diskussionssteilnehmern über eine fetischisierte Wissenschaftsfantasie hinaus kaum nachvollziehbar bleibt, wird die Pandemie heute von den traditionellen und den sozialen Medien, vom allgegenwärtigen Gespräch, von Debatten, Kundgebungen, privaten Podcasts und Videos hergestellt, und in größtem Durcheinander an das Bewusstsein gebracht: Die epidemiologische Pandemie wurde folglich zur Kommunikationspandemie, bei der wissenschaftliche Konstruktion nur noch einen Nebenschauplatz darstellt.
Die Kommunikationspandemie bewegte sich zusehends in Richtung einer durchgehenden Moralisierung der Diskurse und der allgemeinen Rhetorik. Fragen der Medizin und Wissenschaft, Probleme der Epidemiologie und Statistik wurden mit Aufrufen zur Verantwortung, zur Moral zuerst vermischt, dann schließlich fast durch diese ersetzt.
Eine solche Moralisierung, obwohl sie wohl zur allgemeinen Mobilisierung von Vorsichtsmaßnahmen beitragen kann, biegt jedoch nicht zu unterschätzende Gefahren und bedenkliche Konsequenzen. In dieser Hinsicht scheint eine Wiederaufnahme von Niklas Luhmanns Reflexionen zur Moral und Ethik aus der Perspektive der Soziologie sinnvoll.
Luhmann begreift Moral als eine besondere Art der Kommunikation die „menschliche Achtung oder Missachtung zum Ausdruck bringt“. Direkt drückt Moral diese, so Luhmann, durch Lob und Tadel aus, indirekt durch den Hinweis auf die Bedingungen unter denen Handlungen und Ansichten achtenswert oder verachtenswert sind.
Der Unterschied von Achtung und Missachtung schlägt sich auch im Unterschied von Ego und Alter, von Eigengruppe und Fremdgruppe nieder. Die Differenz zwischen Achtung und Verachtung überträgt sich auf die Differenz von Ego und Alter. Achtung kann dazu dienen, die Selbigkeit, die Zugehörigkeit mitzuteilen – das „Wir-Gefühl“ der Eigengruppe – und Abgrenzung zur Fremdgruppe erfordern. Dort, wo Moral soziale Bindung schafft, schafft sie gleichzeitig Konflikt, Ausschluss und Auflösung von gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Moral, könnte man mit Luhmann feststellen, hat etwas zweifach Pathologisches. Da Moral nur in Situationen erscheint, wo „es brenzelig wird“, tritt sie als Symptom von sozialen Unstimmigkeiten und Konflikten auf. Wenn die Kommunikation der sozialen Funktionssysteme oder Felder gestört wird, kann Moral zwar als feldübergreifender Code in Kraft treten, tut dies aber mit zusätzlich pathogener Wirkung. Denn Moral vermag es nicht, die gestörte Kommunikation wieder herzustellen, da sie vor allem zur Generalisierung von Konflikten führt.
Der Unterschied zwischen Achtung und Missachtung reproduziert symbolisch den Unterschied zwischen Inklusion und Exklusion. Da aber Exklusion nur als Tötungshandlung die ausgeschlossenen Kommunikationsteilnehmer wirklich eliminieren kann, bleibt Missachtung Ersatz einer gesellschaftlichen Unmöglichkeit. Dieses Nicht-Gelingen bedingt „die Heftigkeit, die Zornigkeit, die kämpferische Aufspreizung des moralischen Urteils“.
Moral ist ein riskantes Unternehmen. Wer moralisch argumentiert, lässt sich auf ein Risiko ein und wird bei Widerstand sich leicht in der Lage finden, nach stärkeren Mitteln suchen zu müssen oder an Selbstachtung einzubüßen. Moral hat daher, soweit sie sich nicht im Selbstverständlichen aufhält und hier fast unnötig ist, eine Tendenz, Streit zu erzeugen und den Streit dann zu verschärfen. Moral ist polemogener Natur.
Wird der moralische Streit durch die Massen- und sozialen Medien potenziert, verallgemeinert sich auch die durch ihn bedingte gesellschaftliche Polarisierung. Damit zerreißt die Moral möglicherweise auf lange Zeit das, was sie eigentlich zusammenbringen sollte: einen zusammenhängenden, verhältnismäßigen Umgang mit einer geteilten und schwer einschätzbaren Gefahr.
Von dieser soziologischen Warnung nicht mitgedacht sind die psychologischen Auswirkungen der moralischen Kommunikationsform. Psychologisch ist die polemogene, die streiterzeugende Natur der Moral, durch ihre von Mechanismen der Inklusion und Exklusion geprägte Kommunikation, ihrerseits stark konfliktgeladen. Achtung und Missachtung, Anerkennung, Aufnahme und Zustimmung auf der einen, Ablehnung, Kränkung und Erniedrigung auf der anderen Seite lösen starke psychische Reaktionen bei Betroffenen aus, die auf der psychischen Ebene die gesellschaftliche Verallgemeinerung des Konflikt erklären.
Weil Missachtung und soziale Ausgrenzung immer die ganze Person betreffen, wie es Luhmann richtig bemerkte, bewirkt moralisches Urteil notwendigerweise Scham beim Betroffenen. Im Gegensatz zum Gewissenskonflikt wirkt Scham immer durchgängig: Sie umfasst die ganze Persönlichkeit und umschließt die eigene Identität. Das Gefühl der Scham ist folglich auch eines des Ausgeliefertseins und des Kontrollverlusts. Scham erzeugt beim Betroffenen angstgeladene Ohnmacht und schmerzhafte Erniedrigung. Die Scham, die aus der Bloßstellung der moralischen Abwertung entsteht, treibt den Betroffenen in den Rückzug.
Interessanterweise besitzt das Wort „Scham“ den gleichen etymologischen Ursprung wie das Wort „Haut“: beide beziehen sich auf das Bedeckende und Verhüllende. Daraus ergeben sich zwei kulturgeschichtliche Vorstellungen der Haut: die Haut als Hülle, aber auch die Haut als „Ich“, die sich auch in der Schamangst ausdrücken. Mit dem Schamgefühl wird die schützende Grenze zur Außenwelt aufgehoben und die sich schämende Person in eine psychische Totenstarre vor dem urteilenden Blick der Anderen versetzt. Scham erzeugt Reaktionen des Rückzugs, des Versteckens, Verhüllens und Maskierens.
In der Scham verwandle ich mich in ein Nichts und erleide einen symbolischen Tod. Die Scham erzeugt deshalb nicht nur einen Objektverlust – die Lösung der Beziehung zu den Anderen –, sondern auch einen unvermeidlichen Selbstverlust. Der symbolische Tod der Scham entspricht der Objektivierung der Person: Der Beschämte ist nicht mehr Subjekt, sondern wird zum widerstandslosen Ding des urteilenden Blicks des Anderen. Das unerträgliche Gefühl der Scham ruft starke Abwehraktionen beim Betroffenen hervor. In „Die Maske der Scham“ beschreibt der Psychoanalytiker Leon Wurmser eine Reihe von typischen Reaktionen auf das Schamerlebnis. Drei der besonders häufigen von der Scham bedingten Reaktionen sind die Umkehrung, der Trotz und der Zorn sowie der Neid: „den Spieß herumdrehen“.
Wenn Scham das Gefühl bedingt, ein Narr zu sein und der Verachtung zu unterliegen, besteht eine gängige Abwehr darin, das passiv Erlebte in eine aktive Gegenhaltung umzukehren: Der Gedemütigte demütigt, der Verachtete verachtet, der Erniedrigte erniedrigt. Die Umkehrung ist hier eine der Aktivität und der Passivität. Der Beschämte vermag es, aus seiner Ohnmacht und seiner passiven Angst herauszukommen, indem er selbst aktiv beschämt und erniedrigt. Der Beschämte oder der sich vor der Scham Ängstigende nimmt so die Haltung der Arroganz und Überheblichkeit an und verurteilt und beschämt andere, um nicht selbst der Schamangst zu erliegen. In dieser Reaktion ist die Tendenz zur aggressiven Eskalation offensichtlich. Wer den „Spieß herumdreht“, provoziert Eskalation.
„Trotz und Zorn“ stellen auch eine Art der Umkehrung des Affekts der erlittenen Beschämung dar. Trotz stammt aus dem Versuch, die eigene Integrität zu bewahren und gegen den urteilenden Aggressor aufzubegehren. Somit erlaubt es der Trotz auch, etwas von der eigenen Autonomie, die durch die Scham von Verschwinden bedroht ist, zu bewahren. Wie Arroganz kann Trotz sehr gut als rationalisierte, dauerhafte Abwehrstellung dienen und so letztendlich zum defensiven Charakterzug werden. Die eskalierende Wirkung des Trotzes ist zwar ungleich schwächer als die der defensiven Beschämung. Aber der Trotz vermag es trotzdem nicht, die Kommunikation aus der Logik von Achtung und Missachtung zu befreien. Impulsiver und weniger reflektiert ist die Antwort der Wut und des Zorns. Wut und Zorn entstehen jedoch nicht so sehr aus einer Situation der schon erlittenen Scham, als aus der Angst vor einer bevorstehenden Scham. Trotz und Zorn vermögen es also gut, als eine Art psychischer Präventivkrieg zu fingieren, bei dem man andere angreift, auf die Gefahr hin, selbst angegriffen zu werden.
Das Schamerlebnis gibt auch regelmäßig Anlass zu Neid. Neid entsteht aus dem Gefühl der Ungleichheit, der eigenen Minderwertigkeit, Unzulänglichkeit oder Mangelhaftigkeit. Diese werden vom Betroffenen als ungerecht empfunden und entfachen somit ein starkes Bedürfnis nach ausgleichender „Gerechtigkeit“.
Wurmser bringt das Gefühl des Neids auf eine ebenso einfache wie ausdrucksvolle Formel: „Ich möchte an positiven Eigenschaften oder Besitztümern so reich sein wie der andere, damit ich geliebt, bewundert, respektiert werde und mächtig bin.“ Der Neid möchte also wiederherstellen, was die Scham nimmt.
Aus solchen psychischen Abwehrreaktionen wird noch besser ersichtlich, wie richtig Luhmann liegt, wenn er denkt, dass Moral zur Verallgemeinerung der Konflikte führt und Gewalt vorbereitet. Missachtung und Beschämung sind das Gegenteil einer Anerkennung, ohne die es keinen Dialog geben kann.
In „Kampf um Anerkennung“ schreibt Axel Honneth:
„[Die] Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens vollzieht sich unter dem Imperativ einer reziproken Anerkennung, weil die Subjekte zu einem praktischen Selbstverständnis nur gelangen können, wenn sie sich aus der normativen Perspektive ihrer Interaktionspartner als deren soziale Adressaten zu begreifen lernen.
Genau an diesen beiden neuralgischen Punkten des gesellschaftlichen Zusammenlebens – an der Anerkennung des Anderen und dem damit verbundenen Selbstverständnis – wirken die Gifte der Moral und der Scham.“
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können